Klassenkampf
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Von Interessen, Schuhbürsten und Säugetieren – d.h. vom „Klassenkampf“ und von der Agenda 2010

Peter Kroh  

 

Nicht nur Menschen, die an der Lösung der Krise in der PDS interessiert sind, sondern sehr, sehr viele Menschen mit geringeren masochistischen Neigungen stellen sich heute sehr intensiv die Frage: In welcher Welt, in was für einer Gesellschaft leben wir denn eigentlich ?

„Die Frage ist historisch gemeint, nicht geografisch. Was durchleben wir gerade? Wohin treiben wir? Was haben wir verloren? Wie sollen wir weitermachen, so ohne eine überzeugende Zukunftsvorstellung? Warum haben wir die Sicht auf alles, was jenseits unserer Lebenszeit liegt, verloren?“ ( John Berger:  Betrachtungen über das Wesen der Tyrannei; in  Le Monde diplomatique , deutsche Ausgabe vom 14.2.2003 )

 

Antworten sucht und findet letztlich jede und jeder mit Hilfe von Begriffen. Sie sind das gei-stige Werkzeug, die Welt um mich herum gedanklich zu erfassen, eben – in einem sehr an-schaulichen Sinne – zu be-greifen.

Falsche Begriffe führen nicht nur zu einem falschen Bild von der Welt, sondern auch zu ei-nem nicht erfolgreichen Handeln. Ein dummes Beispiel: Würde man einem kleinen Kind das dunkle Zimmer mit dem Wort „hell“ erklären, dann könnte man später von ihm den Satz hö-ren:“ Ich möchte das Licht ausmachen, damit es hell wird im Zimmer.“ Ein nicht ganz so dummes Beispiel : Jungs, die als Alltagsnorm erleben, wie Vater Mutter ständig  „Schlampe“ nennt , gucken hilflos und ungläubig, wenn man ihnen sagt, das sei ein Schimpfwort, eine Beleidigung. Wenn sie etwas größer sind, lachen sie uns dann aus. Sie haben dann schon feste Begriffe übers andere Geschlecht als Teil ihrer Umwelt.

Denn : mit Begriffen sind nicht nur  Einstellungen, sondern auch Handlungen verbunden.

Genau so – nur enorm komplizierter –  oder besser: sehr viel komplexer – aber letztlich exakt geradeso – ist es mit der Gesellschaft.

Wenn jemand die bundesdeutsche wirtschaftliche und gesellschaftliche Realität als „soziale Marktwirtschaft“ benennt, dann will er andere (vielleicht auch sich selbst) glauben machen, der Markt löse alle ökonomischen Probleme in guter Weise und dadurch sei für das Soziale schon das Beste getan. Man hört das z.B.in der Formulierung : „Der Mensch ist für die Wirt-schaft da und Wirtschaft wird in der Wirtschaft gemacht!“  Wer unsere Wirklichkeit hinge-gen als neoliberalen oder entfesselten (Turbo-)Kapitalismus bezeichnet, der macht deutlich, dass es einigen relativ Wenigen immer besser geht und eine ziemlich großen Mehrheit erheb-liche Schwierigkeiten hat, über ihr Leben selbständig und frei zu bestimmen. Man hört das z.B. in der Zielstellung :“Die Wirtschaft ist für den Menschen da, denn Wirtschaft findet in der Gesellschaft statt.“

Und in der Gesellschaft wird durch die Politik geregelt, unter welchen Rahmenbedingungen (Grundsätze, Ziele, Verteilung der Ergebnisse u.ä.) die Wirtschaft funktioniert. Mit Blick auf die soziale Gerechtigkeit stellt sich die Frage, „was den beiden Produktionsfaktoren Arbeit und Kapital in funktionaler Hinsicht letztlich im Rahmen des Volkseinkommens nach Ab-schluss der vielfältigen Umverteilungsprozesse verbleibt“ (C.Schäfer: Privater Reichtum um den Preis öffentlicher und privater Armut? WSI-Mitteilungen 11/2000, S.745)  Zuerst zeigt sich „eine gene-relle Schieflage bei der Verteilung der Finanzierungslasten gesellschaftlicher Aufgaben“ (ebd.748) , d.h. die Löhne und Gehälter werden weitaus stärker zur Finanzierung des Gemein-wesens herangezogen als die Gewinns- und Vermögenseinkommen. Dann zeigt sich bei den Lohn- und Gehaltsempfänger eine erhebliche Ost-West-Differenz (im Osten werden im Durchschnitt knapp 75 % vom Westniveau erreicht), d.h. hier wird ein Verstoß gegen den Verfassungsgrundsatz zur Schaffung gleicher Lebensverhältnisse nicht nur zugelassen, son-dern hergestellt. Weiterhin zeigt sich - in Ost und West gleichermaßen! -  eine erhebliche Dif-ferenz in der Entlohnung von Männern und Frauen . Das heißt, es wird permanent der Grund-satz „Gleicher Lohn für gleiche Arbeit“ verletzt , weswegen in unserem Land „ein doch recht großes allgemeines Armutsniveau in einem ansonsten einkommens- und vermögensreichen Land“ (ebd.,S.755) zu konstatieren ist und die Politik „erstaunliche Defizite in der Bekämpfung wie der Vorbeugung gegen solche Armut offenbart“ (ebd.). Zu dieser Schieflage kommt es, weil die wirtschaftlich und politisch Mächtigen immer wieder dafür sorgen, dass sich das Le-ben der Gesellschaft um die „Sonne des Profits“ dreht und sie selbst den Löwenanteil an Wär-me und Kraft erhalten. Die anderen müssen infolgedessen dann eben – in Erinnerung an eine aktuelle Armutsstudie der Caritas – als  „Menschen im Schatten“  leben.

In den letzten 10 Jahren hat sich in Deutschland das private Geldvermögen ebenso wie die Staatsschulden verdoppelt ! Zufall ? Ergebnis gewollter politischer Entscheidungen ? Egal, wie auch immer, die Wirklichkeit realistisch benennen, das heißt sagen: „die Gewinne werden privatisiert und die Verluste sozialisiert.“ Die Gewinne der Unternehmen stiegen in diesem Zeitraum um ca. ein Drittel, re - investiert wurden lediglich ca.3 %. Und der Rest ?

10 % aller Haushalte an dem einen „Ende“ der bundesdeutschen Gesellschaft besitzen 40% des gesamten privaten Vermögens; fast 50% der Haushalte hingegen – sozusagen am anderen „Ende“ der Gesellschaft – verfügen über etwa 5 %. Und da sind die Superreichen noch gar nicht im Blick, weil ihre Haushalte von der Statistik nicht erfasst werden.

Ein 40-jähriger Arbeiter in der metallverarbeitenden Industrie verdient im Osten jährlich ca. 24.000 bis 25.000 Euro, ein Telekom-Vorstand 300.000 und der Chef von Daimler-Chrysler ca. 13,5 Millionen Euro. Ist die Leistung der letzteren tatsächlich ungefähr 12 x bzw. mehr als 500 x größer als die des Arbeiters ? Nein !

Es sind deshalb neue  wirtschafts- und sozialpolitische Schritte notwendig , damit Arbeit und existenzsicherndes Einkommen für alle als politischer und moralischer Imperativ gültig wird. Der Anspruch von Art.1 (1; 2 )des Grundgesetzes , wonach die Würde des Menschen unan-tastbar ist und es die Verpflichtung aller staatlichen Gewalt ist, sie zu achten und zu schützen, ist in Arbeitsmarktpolitik umzusetzen. Wirtschaftspolitik darf nicht mehr so verstanden und betrieben werden, dass für bestimmte Interessen der Wirtschaft Politik gemacht wird. Politik muss vielmehr stärker sichern , dass wirtschaftliches Handeln sich an politisch definierten Zielstellungen ausrichtet.

Und um eins ganz deutlich zu sagen: mit dem Vorwurf des „Sozialneids“ haben solche Über-legungen nichts zu tun. Dieser Vorwurf ist vielmehr ein weiterer Begriff, um den Ruf nach so-zialer Gerechtigkeit – und auch Rufende (!) – in ein schlechtes Licht zu rücken.

Überlegungen über die Leistung des einzelnen und ihre angemessene Vergütung gehören ins Zentrum dieser Gesellschaft  und Fragen danach sind nicht Symbole des Neids, sondern Aus-druck von gesellschaftlicher Verantwortung und der Suche nach sozialer Gerechtigkeit .  

 

Hauptgegenstand der sozialen Gerechtigkeit ist die Grundstruktur der Gesellschaft. Und zwar, weil ihre Wirkungen für den einzelnen tief greifend und von Anfang an vorhanden sind. So-ziale Gerechtigkeit ist immer mit Situationen sozialer Ungleichheit – vom einzelnen erst ein-mal vorgefunden und insofern objektiv - verbunden, mit Zuständen also, in denen verfügbare Güter und Lebenschancen ungleich verteilt sind.

Soziale Gerechtigkeit hat deshalb überhaupt nichts mit Gleichmacherei zu tun. Ungleichheit ist nicht identisch mit Ungerechtigkeit ! Soziale Gerechtigkeit stellt sich vielmehr aus der Be-gründung und Akzeptanz oder der Beseitigung von Ungleichheiten her. Letztere sind z.B. dann durchaus erträglich, wenn sie von niemandem ausgenutzt werden können, um die Chan-cen anderer zu vernichten. Genau genommen sind dann Ungleichheiten sogar ein  Anreiz für den einzelnen.

Schlägt die soziale Ungleichheit jedoch in reduzierte Lebenschancen, Unfreiheit, und Aus-grenzung um , dann ist ein ständiger innergesellschaftlicher Streit um die Minimalbedin-gungen für die Sicherung des Gemeinwohls und den Schutz der menschlichen Würde erfor-derlich.

Das Handeln von Politikern, Parteien, Regierungen kann man dann und insofern sozial ge-recht nennen, wenn zuerst Interessenkonflikte ehrlich, realistisch, korrekt benannt und auf dieser Grundlage sachlich und ausgewogen so entschieden wird, dass Ungleichheiten begrün-det und akzeptiert oder aber beseitigt werden.

Wie aber ist zu begründen und zu akzeptieren, dass die staatliche Stützung für Schulbücher im letzten Jahrzehnt um ein Drittel gekürzt wurde, aber zwei Milliarden Euro für fliegende To-desmaschinen locker vorhanden sind. Wie ist zu begründen und zu akzeptieren, dass für eine Verbesserung der frühkindlichen Bildung und Erziehung in M-V ganz schwer Geld locker zu machen ist, aber die offensichtlich schon fast verarmte Kempinski-Hotelgruppe (Achtung !! Ironie!) für ihre Superhotelanlage in Heiligendamm mit 40 Millionen Euro subventioniert wurde ?

Cui bono ? Wem nützt es ? Welche Interessen und wessen Interessen werden mit Hilfe welcher falschen Begriffen auf diese Weise befriedigt, realisiert ? Was muß im Interesse der großen Mehrheit der Bevölkerung verändert werden, um derartige Ungerechtigkeiten zu beseitigen ?

Spannende Fragen für linke Politik, schwierige Wegsuche für PDS - PolitikerInnen in Regie-rung und Opposition.

Nicht so für Schröder ! Der weiß , was er will und was er soll. Er nennt sein Programm für die nächste Zeit „Agenda 2010“ und verbirgt hinter dieser wertfrei klingenden Überschrift nicht etwa Maßnahmen, die nur bis zum 20.Oktober greifen und auch nicht ein Programm von 20 notwendigen Aufgaben, von denen 1 realisierbar ist, die auch 0 Arbeitsplätze bringt. Nein, er versucht mit diesem Begriff ein gigantisches Umverteilungsprojekt zu Ungunsten der Arbeit Habenden und der Arbeit Suchenden zu verschleiern.

Wer noch Arbeit hat, soll mit weniger Lohn bzw. Gehalt zufrieden sein, Niedriglöhne seien ein wichtiger Faktor für mehr Arbeitsplätze, sagen die Kapitalisten und ihre politischen Ver-bündeten. Danach müßte der Osten geradezu vor Arbeitsplätzen strotzen ! Tut er aber nicht !

 

Diese Begründung ist also offensichtlich eine Lüge oder ein Irrtum , auf jeden Fall eine Täu-schung und kann deshalb nicht akzeptiert werden. Niedriglöhne gehören also wegen ständiger Produktion und Reproduktion von sozialer Ungerechtigkeit beseitigt ! Niedriglöhne – und ergo falsche Begründungen mit dem Ziel, dass sie dadurch dennoch akzeptiert werden –  lie-gen allerdings im Interesse der Kapitalisten, denn je geringer die Löhne, desto größer der Pro-fit. Und bestimmte Journalisten unterstützen und befördern genau dies, indem sie das Verlan-gen der Ost-Metaller nach gleichen Arbeitszeiten wie im Westen als „Irrsinn“ von „Undank-baren“ denunzieren (M. Richter  in der Märkischen Allgemeinen vom 3.6.2003). Die o.a. Schieflage hingegen ist natürlich keineswegs gesellschaftspolitischer Schwachsinn , sondern die übliche Normalität. Und in der Tat, „ von der kapitalistischen Produktionsweise eine andre Verteilung der Produkte erwarten, hieße verlange, die Elektroden einer Batterie sollten das Wasser unzer-setzt lassen, solange sie mit der Batterie in Verbindung stehn, und nicht am positiven Pol Sau-erstoff entwickeln und am negativen Wasserstoff.“ (MEW 20 / 256 ) Offensichtlich werden Interessen in einem Kampf gegensätzlicher sozialer Kräfte umgesetzt.

Neuste Ergänzung dieser rücksichtslosen Durchsetzung egoistischer Interessen : Herr Hundt fordert den Billigazubi. Wenn das Lehrlingsentgelt halbiert würde, könnten Betriebe zwei statt einen einstellen – das fordert dieser (Herr) Hundt von der Politik  und den Gewerkschaf-ten. Ausbildung ist – betriebswirtschaftlich-eigennützig (!) gesehen – in der Tat ein „Verlust-geschäft“, denn Lehrlinge benötigen Anleitung, Aufsicht (also steigen die Personalkosten ) und bringen weniger Ergebnisse als der Facharbeiter (also sinken die möglichen Gewinne).  Eine volkswirtschaftlich-verantwortungsbewußte, sozialpolitische Gesamtsicht kommt so nicht in den Blick. Und der Staat, der genau dafür – und eigentlich nur dafür da ist ! – hält sich nicht nur nicht raus, sondern forciert durch seine Entscheidungen genau diese Art und Weise der Durchsetzung von Interessen einer kleinen Minderheit gegen die große Mehrheit der Bevölkerung.

 

Das tut er (nicht zuletzt mit der berüchtigten Agenda 2010) auch gegenüber den Arbeit Su-chenden. Wer jahrzehntelang in die Arbeitslosenversicherung eingezahlt hat, dem soll nun – wenn diese Versicherung für ihn in Kraft treten muss, weil er gefeuert wurde –   per Gesetz erst sein Rechtsanspruch reduziert und dann ein Almosen  (das heißt allerdings anders, näm-lich neutral und akzeptabel Arbeitslosengeld II) „geschenkt“ werden, dass zum Leben zu we-nig und zum Sterben zu viel ist. Im Interesse der wenigen Profiteinheimser und ihrer politi-schen Verbündeten liegt das wohl, im Interesse der Millionen Lohn- und Gehaltsabhängigen liegt es nicht , oder ? Ist es deshalb unter dem Blickwinkel sozialer Gerechtigkeit zu akzeptie-ren oder zu beseitigen ?

Spannende Fragen für linke Politik, schwierige Wegsuche für PDS – Politiker-Innen in Regie-rung und Opposition.

 

Es ließen sich ähnliche Überlegungen zum Verhältnis von Tatsachen zu Begriffen im Gesund-heitswesen (z.B. „Kostenexplosion“ ; „Konkurrenz der Krankenkassen um lukrative Kunden“; „Fallpauschalen“, „Qualitätsstatistik“) finden, auch bei Begründungen für Kriege (“gegen den Erbfeind“, „seit 5 Uhr wird zurückgeschossen“ , „Kuba bedroht Amerika“ , „Irak verfügt über Massenvernichtungswaffen“ usw.) sollen Tatsachen vermittels falscher Begriffe nicht ins Be-wußtsein dringen bzw. dort verkehrt widergespiegelt werden. Analoges läßt sich in der Innen-politk erkennen (z.B. “verordneter Antifaschismus“, „ Anti-Terror-Gesetze“ )

 

Es sollen jedoch nicht noch weitere Beispiele anführen, sondern verallgemeinernd erst ein-mal festhalten : Die (Er-)Findung falscher Bezeichnungen ist seit Jahrzehnten eine erfolg-reiche Strategie, um entgegen den offenkundigen Tatsachen die Interessen der Herrschenden gegen die Interessen der Beherrschten durchzusetzen.

 

Zwei Gedanken kluger Leute geben allerdings immer wieder Hoffnung. Es war der US-ame-rikanische Präsident Lincoln (1809 bis 1865), der darauf hinwies, dass man natürlich einige Menschen die ganze Zeit und alle Menschen einige Zeit in die Irre führen kann, dass es aber nicht gelingen wird, alle Menschen die ganze Zeit gegen ihre Interessen in Bewegung zu set-zen. Und einer seiner Zeitgenossen, Friedrich Engels ( 1820 bis 1895) bemerkte ironisch, auch wenn man eine Schuhbürste in die Gruppe der Säugetiere einordnet, bekommt sie davon noch lange keine Milchdrüsen . (vgl. MEW, 20 /39)                                           

Wenn also Forderungen nach korrekter Bezeichnung der vorhandenen Zustände – etwa die Maximierung der Profite zugunsten Weniger tatsächlich Profitmaximierung auf Kosten Vieler zu nennen oder die Beseitigung extremer Ungerechtigkeiten als Schritte zu mehr Gerechtig-keit zu definieren oder die angebliche Befreiung des Iraks durch einen sog „Präventivkrieg“ einen völkerrechtswidrigen Angriffskrieg zum Nutzen weniger, meist mit Öl verbundener amerikanischer und britischer Großkonzerne zu bezeichnen – als gesellschaftsgefährdend, als systembedrohend bewertet werden, dann steht es zum einen offensichtlich schlecht ums System und zum anderen liegt sein Charakter, sein Wesen offen auf der Hand.

 

„Feuchte Augen“ (siehe Robert Kurz im ND vom 30.5 ) bekommen wir deshalb nicht so sehr, wenn „ Traditionsmarxisten“ (wen immer auch in er diese Schublade stecken möchte) den Begriff des Klassenkampfes verwenden. Feuchte Augen bekommen eher jene, die unter den Folgen von „Hartz“ jetzt schon zu leiden haben und sehr bald die Umsetzung von „Rürup“ und Agenda 2010 hinnehmen, durchmachen müssen. Feuchte Augen bekommen wir und andere allerdings, wenn wir das Unvermögen mancher Linken mit ansehen ,angesichts der Realitäten Schwarz tatsächlich „schwarz“ zu nennen und zu Weiß  „weiß“ zu sagen und statt dessen die schon von Engels als „Unsinn“ bewertete Auffassung in moderner Sprachform wiederholen: „Die kapitalistische Produktionsweise ist ganz gut und kann bleiben, aber die kapitalistische Verteilungsweise taugt nichts und muß abgeschafft werden“ (MEW 20/ 173).

Ja, die Schuhbürste bekommt eben keine Milchdrüsen !

 

Wird für einen ruhig und sachlich denkenden Menschen die Nutzung des Wortes „Klassen-kampf“ nicht geradezu unabwendbar  – obwohl die Klassen des 18./19. Jahrhunderts heute so nicht mehr existieren – , wenn er bedenkt, dass der BDI-Chef Rogowski Ende April 2002 (al-so knapp fünf Monate vor der Bundestagswahl !) „mutige Schritte“ auf dem Weg zu weniger Sozialleistungen (Einschränkung bei der Gesetzlichen Krankenversicherung, Heraufsetzung des Rentenalters, Absenkung von Arbeitslosen - und Sozialhilfe) ebenso forderte wie die Los-lösung von Flächentarifverträgen, vom Kündigungsschutz, von der Mitbestimmung, wenn er die umfassende Einführung von Niedriglöhnen ebenso verlangte wie die Einschränkung der Versicherungspflicht für geringfügig Beschäftigte und die weiter spürbare Entlastung der Un-ternehmen von Steuern und bei alldem nicht vergaß, die Gewerkschaften als Relikte „aus dem vorletzten Jahrhundert“ zu bewerten (vgl. junge Welt 1.5.2002)  und der ruhig und sachlich denkende Mensch dann erkennen muss , genau dieses Programm arbeitet Kanzler Schröder Punkt für Punkt seit der gewonnenen Wahl ab !

 

Natürlich kann man Karl Marx als „toten Hund“ bezeichnen und / oder behandeln, allein ganz im Sinne der oben zitierten Schuhbürste wird damit seine nüchterne Analyse des real existie-renden Kapitalismus nicht falsch.

So stellte er z.B. fest , dass die Bourgeoisie „sich endlich seit  der Herstellung der großen In-dustrie und des Weltmarktes im modernen Repräsentativstaat die ausschließliche politische Herrschaft (erkämpfte)“ (MEW 4 / 464) ; dass sie „den Arzt, den Juristen, den Pfaffen, den Poe-ten, den Mann der Wissenschaft in ihre bezahlten Lohnarbeiter verwandelt“ (ebd.465) ; dass sie „nicht existieren (kann), ohne...sämtliche gesellschaftlichen Verhältnisse fortwährend zu re-volutionieren“ (ebd.) ; dass sie „durch ihre Exploitation des Weltmarktes die Produktion und Konsumtion aller Länder kosmopolitisch gestaltet“ und  sich „eine allseitige Abhängigkeit der Nationen voneinander“ entwickelt (ebd.466) ; dass sie „durch die rasche Verbesserung aller Produktionsinstrumente, durch die unendlich erleichterten Kommunikationen alle, auch die barbarischsten Nationen in die Zivilisation (reißt)“ (ebd.).

Klingen diese Worte aus dem Jahre 1848 nicht wie ein Beschreibung unserer heutigen Globa-lisierung ?

 

Legt man nun diese Gedanken wie eine Art „Folie“ über die Entwicklung der letzten 150 Jah-re , müßte man dann mit Blick auf die Gegenwart nicht schlußfolgern, dass die technische und wissenschaftliche Entwicklung des Kapitalismus den uralten Klassengegensatz nicht beseitigt hat, wohl aber neue Schichten, soziale Strukturen, neue Formen und Bedingungen der Unter-drückung und Ausbeutung, neue Gestaltungen und Konturen des Kampfes der gegensätzli-chen Interessenvertreter hervorgebracht hat, wozu u.a. eine bezahlte Armada der Massenme-dien gehört, die nur zur Verbrämung und Verschleierung dieser neuen Wirklichkeit existiert ?

 

Macht (politische und mediale, am besten im abgestimmten Zusammenwirken) wird deshalb gebraucht, um – zum Beispiel mit der Suggestion von der so genannten Alternativlosigkeit der jeweiligen Entscheidung, der betriebswirtschaftlich geprägten Standortlogik sowie dem Mißbrauch des Wortes REFORM  – Interessen der ökonomisch Mächtigen (Banken, Kon-zerne, Versicherungen ) sowohl gegen Interessen der lohn- und gehaltsabhängig Beschäftig-ten, der kleinen und mittleren Unternehmen, der sozial Ausgegrenzten (der Beherrschten ) als auch mitunter und für eine bestimmte Zeit mit jeweils differenzierten Interessen dieser Grup-pen / Schichten zu realisieren.

Gegenmacht zu entwickeln, wirkliche Reformen zu bewerkstelligen liegt deshalb – trotz und wegen der dialektischen Widersprüchlichkeit, die in dem zeitlichen ZUGLEICH  von „gegen“ und „mit“ steckt -  im grundlegenden  Interesse der Beherrschten.

 

Reformen sind Veränderungen der Zustände, die Verbesserungen mit sich bringen . Für wen bringt die Schröder-Agenda Verbesserungen ? Welche Interessen und wessen Interessen wer-den damit erfüllt ? Kann man diese Politik als Umsetzung von Artikel 14 (2) des Grundge-setzes für die Bundesrepublik Deutschland , wonach „Eigentum verpflichtet“ und sein „Ge-brauch zugleich dem Wohle der Allgemeinheit dienen(soll)“ akzeptieren ? Ist diese Politik eine aktuelle Realisierung der Definition in Artikel 20 (1), wonach „die Bundesrepublik ein demokratischer und sozialer Bundesstaat (ist)“? Offenkundig muss man das eher verneinen. Der Kanzler leistet aber bei Amtsantritt einen Eid auf das Grundgesetz ! Gilt es deshalb für Linke, aus Art.20 (4) politische Schlußfolgerungen zu ziehen, wenn dort formuliert wird : „ Gegen jeden, der es unternimmt, diese Ordnung  (! also wie sie u.a. in 14(2) und 20 (1) definierte ist – Ergänzung : P.K.) zu beseitigen, haben alle Deutschen das Recht zum Widerstand, wenn andere Abhilfe nicht möglich ist.“ ?

 

Offensichtlich zeigt sich doch in der Schröder-Agenda , dass – sicher vielfach vermittelt –die objektiven Grundlagen dafür letztlich in den ökonomischen Verhältnissen liegen und diese sich als Interessen zutage treten . „Die ökonomischen Verhältnisse einer gegebenen Gesell-schaft stellen sich zunächst dar als Interessen.“ (MEW 18/274) . Aufgrund der objektiv gegen-sätzlichen Position sozialer Gruppen / Schichten in den Eigentumsverhältnissen sind die da-raus entspringenden objektiven Interessen zwangsläufig widersprüchlich.

Fortbestehende und sich verschärfende antagonistische Widersprüche zwischen Kapital und Arbeit, zwischen Ausbeutern und Ausgebeuteten zu ignorieren, ist deshalb ebenso wirklich-keitsfremd und politisch unproduktiv wie ihre Verabsolutierung Die Interessen sozialer Akteure, der Grad ihrer bewussten Wahrnehmung, die Grenzen und Möglichkeiten, Interessen im Verwandlungsprozess ihrer objektiven Determiniertheit in subjektive Bedeutsamkeit zu verfälschen, zu verzerren, zu verdrehen, ja Akteuren gegenteilige Interessen zu suggerieren,  ist der Schlüssel, „sich nicht völlig im Vagen zu verlieren und jeden Maßstab aufzugeben“

(D. Klein, Hrsg., Zukunftsbericht der RLS, S. 122)

 

Linke Konzeptionen für heutige Aufgaben bei der Schaffung einer gerechteren Gesellschaft gehen zurecht davon aus, dass es in die Irre führt, Kriterien, Teilziele und Wege dafür am „grünen Tisch“ des Wissenschaftlers, Parteistrategen oder Politikers zu produzieren. Verände-rungsstrategien müssen in den alltäglichen Lebensbedingungen des immer größer werdenden Teils der von der gesellschaftlichen Entwicklung benachteiligten Menschen, in ihren Wün-schen und Hoffnungen begründet sein und mit ihnen entwickelt werden. Dabei ist zu berück-sichtigen , dass Menschen objektiv äußerst unterschiedliche Möglichkeiten (Machtressour-cen) haben, ihre Lebensumstände stärker selbst zu bestimmen. Wo man den Unterprivilegier-ten mehr Macht geben will, muss man sie offensichtlich anderen nehmen. Es liegt auf der Hand, dass der Kampf zwischen realer Macht und potentieller Gegenmacht direkt mit dem Kampf zwischen gegensätzlichen Interessen verbunden ist und als solcher erscheint ! Und es liegt auf der Hand, dass die Mächtigen Mittel und Methoden suchen (und finden!) , um die Kraftreserven einer möglichen sozialen Gegenmacht zu paralysieren. Wie in alten Zeiten gilt deshalb auch heute (und jeder Zeitgenosse erlebt es) !: Divide et impera,  Teile und herrsche!

 

Beim Nachdenken über alternative politische Strategien zur gegenwärtigen neoliberal-kapita-listischen Gesellschaftsentwicklung ist daher eine Macht- und Gegenmachtperspektive uner-lässlich und produktiv. Sie entspricht den realen Gegebenheiten und ist damit eine Vorausset-zung für linke Realpolitik. Aus einer derartigen Analyse- und Strategiesicht ist die Auseinan-dersetzung mit der Problematik sozialer Interessen und ihrer Transformation in Staatspolitik abzuleiten. Sie ist für Aufklärung und Mobilisierung von Akteuren gegen  Macht und Herr-schaft des Profitprinzips (in nahezu allen gesellschaftlichen Bereichen) unverzichtbar.

 

Bisher fehlte es der PDS auf bestimmten Politikfeldern ja nicht an alternativen Konzepten, sondern eher an ihrem Einfluss auf institutionelle Politik der verschiedenen Ebenen. Wichtig ist es daher,  bestimmte, bisher noch nicht genug beachtete Voraussetzungen und Bedingun-gen für mehr Einfluss / eine bessere Übertragung von alternativen Politikinhalten und Kon-zeptionen in Staatspolitik zu erörtern. Dabei geht es jetzt konkret um die Zurückdrängung der immer radikaler werdenden Profitdominanz über alle Bereiche der Gesellschaft, um die tat-sächliche Durchsetzung der grundgesetzlich definierten Gemeinwohlpflicht des Eigentums, um die Möglichkeiten zur Abkopplung zahlreicher individueller Lebensentscheidungen von der Unterordnung unter Markterfordernisse .

 

Muss es Linke nicht hellhörig machen und zu neuen Aktionen für die Interessen der Abhän-gigen und Beherrschten inspirieren , wenn sich heute immer mehr das Empfinden, die Furcht, das Bewußtsein verbreitet, die menschenfeindlichen Folgen der Globalisierung , vor allem Massenarbeitslosigkeit in der „ersten“ und Hunger/Elend in der „dritten“ Welt können ebenso wie Krieg und Terror (in der „ersten“ und „dritten“ Welt) jeden treffen ?

Können Linke ihre politischen Programme und Aktionen von der Tatsache leiten lassen, dass

der Krieg der Terror der Reichen dieser Welt und der Terror der Krieg der Armen dieser Welt ist?

Können Linke ihre politischen Programme und Aktionen von der Tatsache leiten lassen, dass Massenarbeitslosigkeit und Verelendung Ergebnisse des Kampfes einer mächtigen sozialen Schicht aus Bankern, Militärs, Großindustriellen und Politikern (sozusagen die moderne Er-scheinungsform der Uralt-Bourgeoisie im 21.Jahrhundert) zur Durchsetzung ihrer (Profit-) Interessen ist ?

Können Linke erkennen und entsprechend handeln , wenn diese Schicht als “ Fanatiker (sie wollen alles einschränken außer der Macht des Kapitals)...und Heuchler (in moralischen Fra-gen legen sie stets zweierlei Maß an, eines an das eigene, ein anderes an fremdes Tun)“ be-zeichnet wird ? ( John Berger:  Betrachtungen über das Wesen der Tyrannei; in  Le Monde diplomatique , deutsche Ausgabe vom 14.2.2003 )

Muss es uns Linke nicht stutzig, nachdenklich, vor allem aber aktiv machen, wenn wir fest-stellen, dass diejenigen, die nach dem Zusammenbruch des Ostens vom Ende der Geschichte, vom weltweiten Sieg der Marktwirtschaft, von Gesellschaften und Staaten ohne soziale Kon-flikte getönt haben, seit längerem ganz still geworden sind ?

Entstehen für Linke nicht Verpflichtungen daraus, dass offensichtlich Millionen Menschen er-fahren, empfinden und /oder begreifen, dass Marktwirtschaft die Unsicherheit des Arbeitsplat-zes nicht abschaffen kann, wohl aber kontinuierlich verhindert, dass neue Arbeitsplätze ent-stehen? Warum wohl führen bestimmte Wirtschafts- und Politikerkreise einen so hartnäckigen Kampf gegen das, was man in M-V ÖBS und GAP nennt und was einfach nur die Suche nach einer Form ist, mit der man innerhalb einer betriebswirtschaftlich gelenkten Wirtschaft und Politik betriebswirtschaftlich relativ unprofitable, aber volkswirtschaftlich dringend erforder-liche, unumgängliche Arbeit(en) bezahlen kann ?

Muss es uns Linke nicht zu neuen Aktivitäten empören, wenn Kanzler Schröder vor dem jüngsten SPD-Parteitag dem Sinne nach sagt :“ Wenn wir nicht diese Reformen machen, ma-chen sie die anderen! Dann ist doch besser, wenn wir als SPD die CDU-Politik machen !“ ?

Und ganz ernsthaft gefragt : Haben wir Linken nicht eine große Verantwortung , den Nieder-gang der bundesdeutschen Demokratie und des bundesdeutschen Rechtsstaates zu verhindern, wenn wir sehen, dass – wie einst in der Weimarer Republik – die politische und wirtschaftli-che Elite , die Sorgen, die Nöte, die Ängste, die Unzufriedenheit der Arbeitenden mit flapsi-gen Hand- und Mundbewegungen abtun ?

Können wir gedankenlos zusehen und uns mit internen Machtquerelen selbstzerfleischen, an-gesichts des sozialen Sprengstoffes, der sich aus der Wechselwirkung von Unterbeschäftigung und Unterbezahlung einerseits und Super-Dividenden für Großaktionäre andererseits sukzes-sive explosiv anreichert ?

Müssen wir nicht die Zeichen der Zeit erkennen und etwas dafür tun, dass die objektiv gleiche Interessenlage von vielen unterschiedlichen Gruppen eine organisierende Kraft findet ? Könn-ten die Linken der Motor für den Kampf um einen neuen Sozialvertrag , einen neuen Sozial-konvent sein ?

Könnte die PDS eine gute, tragfähige Stimme sein in dem Chor, der laut und vernehmlich ar-tikuliert: „Neoliberale Gesellschaftszerstörer aus Wirtschaft und Politik, hört die Signale ! Es geht auch heute noch um den Kampf zwischen Kapital und Arbeit. Und wir werden mit dafür sorgen, dass das Pendel der Zukunftsuhr vom Kapital zur Arbeit zurückschwingt!“