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Toleranz in zwei Deutschlands – Anmerkungen zu einem ethisch-politischen Spannungsfeld

 

Von Dr. phil. habil. Peter Kroh

 

 

Fernsehbilder führten uns kürzlich den Massen(selbst)mord einer christlichen Sekte in Uganda vor Augen ;  in Erinnerung sind religiös motivierte Mordanschläge auf US-

amerikanische Ärzte, die Abtreibungen durchführen; wir wissen von den Mordtaten der

Hisbollah, der „Partei Gottes“; wir haben Kenntnis von Hindus, die Christen jagen und

Moscheen zerstören ; wir waren Zeitzeugen für die Verbrechen der Milosevic-Anhänger an

Kosovo-Albanern und sehen jetzt oft (trotz oder wegen dem NATO-Krieg und der jetzigen

Truppenstationierung ?) Zeichen der Vergeltung .

Wir Deutschen erinnern uns immer wieder und werden zu Recht immer wieder auch daran

gemahnt  – damit sich ähnliches (gerade angesichts des alltäglichen Rechtsextremismus,

Rassismus und Antisemitismus) nie wiederhole! - den millionenfachen Mord der deutschen

Nazis an den Juden Europas nicht zu vergessen. Insbesondere wir DDR-Sozialisten müssen

uns weiterhin auch an die Morde des stalinistischen Unterdrückungssystems erinnern, die mit

den Worten „Säuberung“ und „GULAG“ verbunden sind und dürfen die Augen nicht vor dem

Unrecht verschließen, das mit Praktiken des MfS verbunden war.

 

An all das (und manches nicht Genannte) muss gedacht werden, wenn das Thema Toleranz in

Deutschland auf der Tagesordnung steht, denn Intoleranz und daraus folgende Gewalt sind ein

gesellschafts- und generationenübergreifendes Phänomen menschlicher Un(-Kultur).

 

Über all das soll hier aber dennoch aus einem einzigen Grunde nicht geschrieben werden:

Alle Gesellschaften und alle Generationen erkannten und erkennen leichter den Despotismus

und die Tyrannei , die Unmenschlichkeit und die Brutalität, die Parteilichkeit und den Funda-

mentalismus , den Fanatismus und die Beschränktheit, die Einseitigkeit und die Verblendung,

die Selbstherrlichkeit und – gerechtigkeit, die Voreingenommenheit und die Rechthaberei, die

Verzerrung in der Realitätswahrnahme und das Vor-Urteil bei den anderen als bei sich selbst.

Stets wird der Splitter im Auge des anderen, des Fremden gesehen, oft größer als er ist. Der

Balken im eigenen Auge jedoch wird übersehen oder geleugnet. Toleranz ist jedoch vor allem

ein Forderung an sich selbst, eine Auseinandersetzung mit dem Eigenen!

 

Traditionell wurde der Begriff „Toleranz“ für die Duldung abweichender religiöser Bekennt-

nisse durch die Mehrheit verwendet. Heute, in einer Zeit um sich greifender Säkularisierung,

wird er zunehmend ein politischer Begriff  für die Duldung und Akzeptanz  anderer Lebens-

weisen, anderen Verhaltens, anderer Kultur benutzt.

 

Intoleranz – Ursächliches und Historisches

 

Worin liegt eigentlich der Hauptgrund , das Hauptmotiv dafür, dass der Andersgläubige, der

Fremdartige, der anders Aussehende, der anders Denkende (!) herabgesetzt, abgewehrt,

abgelehnt, verfolgt, unterdrückt wird ?

 

Schaut man auf den Einzelfall, sind es stets unterschiedliche Beweggründe. Sucht man die

wesentliche Gemeinsamkeit , dann zeigt sich : Der anderen Lebensart, der anderen Denk- und

Verhaltensweise, der anderen Überzeugung begegnet man mit Intoleranz, weil dadurch die

eigene Art zu leben, zu denken, zu glauben , scheinbar in Frage gestellt wird.

 

Lebt, handelt, denkt, glaubt einer nicht so wie ich, dann entsteht bei mir eine Verunsicherung.

Je mehr ich mir meiner eigenen Sache unsicher bin, desto stärker wird das Bedürfnis, den

anderen auszuschalten, zu beseitigen. Je schwächer das Bewusstsein der eigenen Identität ist,

je geringer das Selbstwertgefühl entwickelt ist, desto größer ist die Gefahr der Intoleranz.

Dabei existiert natürlich eine große Spannbreite, sie reicht z.B. vom Ausschluss an der

Erörterung allgemeiner Aufgaben über individuelle Gewalt bis hin zur organisierten

physischen Vernichtung großer Menschengruppen .

 

Mit dem historischen Blick auf das Eigene lassen sich eine Vielzahl von Belegen dafür

anführen, dass Intoleranz etwas mit fehlender Selbstgewissheit, mit Defiziten in der Festigkeit

der eigenen Überzeugung zu tun hat .

Dreifach thematisch ausgewählt soll diese Aussage veranschaulicht werden.

 

Die Diskriminierung der „Jungen Gemeinde“ in der DDR der 50-er Jahre mit ihren Versu-

chen, über offene gesellschaftliche Fragen auch offen zu diskutieren, hatte nur ganz entfernt

etwas damit zu tun, dass der eine oder andere Angehörige mit „dem Westen“ liebäugelte oder

gar ein „gedungener Agent“ war. Vor allem fühlte sich die junge Staatsmacht verunsichert,

weil sie mit der FDJ – die gerade von einer antifaschistisch-demokratischen Jugendorgani-

sation in allen vier Besatzungszonen (!) unter bewusstem Einschluss christlicher Jugendlicher

(!) zur „Kampfreserve der Partei“ in der SBZ/DDR umgemodelt wurde – nur Gleichschaltung

und Linientreue , also wenig  Attraktives entgegenzusetzen hatte.

 

Die Behinderung der Lebenswege vieler Christen in der DDR hatte gewiss etwas damit zu

tun, dass es „Kaderentwicklungsprinzipien„ gab. Vor allem aber ist die Ausgrenzung christ-

licher Bürger damit zu erklären, dass leitende Genossen nicht wahrhaben wollten und / oder

nicht ertragen konnten, dass Menschen auch ohne „sozialistisches Bewusstsein“ Erfolg im

Beruf, in der Gesellschaft haben konnten. Insofern sind die „Kaderentwicklungsprinzipien„

und ihre rigide Durchsetzung selbst ein Anzeichen für die Angst vor dem anderen, für Schutz-

mechanismen vor dem Fremden.

Wo es für Christen in der DDR weniger oder keine Behinderungen gab – und auch das muss

man um der historischen Wahrheit willen festhalten - , da war das entweder klugen, kulturell

gebildeten  Verantwortlichen geschuldet ,  Menschen also, die sich ihrer selbst sicher waren ,

oder aber es wurde aus politisch-taktischen Gründen die Intoleranz eben gerade mal auf

„Sparflamme“ gekocht.

Und auch das Gegenteil ist wahr. Da, wo die Behinderung in Zerstörung von Lebenswegen

umschlug, wo Drangsalierung und Inhaftierung praktiziert wurden, da verfügten die Verant-

wortlichen „bestenfalls“ über holzschnittartige Verballhornungen marxistischer Termini und /

oder waren schlechtestenfalls auf der Grundlage eines klaren „Feindbildes“ einfach gehorsam

Entweder dachten sie flach und falsch, z.B. waren sie der Meinung, die „wissenschaftliche

Weltanschauung“ (über die natürlich sie zu verfügten glaubten) sei gegenüber der religiösen

Sicht die höhere und ergo bessere. Das führten sie auch noch auf  Marx zurück ! Der jedoch

hatte u.a. die wissenschaftliche und die religiöse Anschauung der Welt lediglich als jeweils

andere , also voneinander zu unterscheidende Aneignungsweisen der Welt charakterisiert und

sie in keiner Weise einander über- oder untergeordnet.(1)

Bei blindem Gehorsams hingegen dachten die Verantwortlichen überhaupt nicht. Für das eine

wie das andere Verhalten (und oft gab es ja Überlappungen!) gilt : man war sich der eigenen

Lebenshaltung und Überzeugung nicht sicher, man kannte nur eine vulgäre Verkürzung von

Begründungen für das Eigene oder scherte sich einen Dreck um Begründungen für das eigene

Tun und Lassen, weil die „Genossen da oben sich schon was dabei gedacht haben werden“.

 

Die Anweisung der Bildungsverantwortlichen, den Aufnäher „Schwerter zu Pflugscharen“

auf den Ärmeln von Kindern und Jugendlichen zu entfernen, führte dazu, dass sowohl

Kleidungsstücke als auch und vor allem Menschenseelen der beteiligten Heranwachsenden,

ihrer Eltern und vieler Lehrer beschädigt wurden.

Aus Unsicherheit über die eigene Auffassung zum Thema Abrüstung, aus Angst vor Argu-

menten, die das eigene Nachdenken herausfordern könnten, setzten die (bildungs-)politisch

Verantwortlichen auf Gewalt und Ausgrenzung . Nur wenige waren in der Lage, zu begrün-

den, dass eine Welt ohne Waffen ein Ideal auch der Sozialisten ist und also hier eher Gemein-

samkeiten in den Grundfragen existierte. Über den Weg dahin bei einander feindlichen Mili-

tärblöcken mit x-facher overkill-Kapazität wäre dann schon zu streiten gewesen. Aber dazu

kam es überwiegend erst gar nicht. Denn: noch weniger hatten die Zivilcourage, solche Dis-

kussionen anzuzetteln oder mitzugestalten und verblieben lieber in stumpfer Passivität . Und

wiederum noch viel weniger wussten, dass die Bibel auch den umgekehrten Spruch, enthält,

nämlich Pflugscharen zu Schwertern zu machen. (2)

 

Statt ängstlicher Intoleranz mit ihrem immanenten Drang zu dumpfer Aggressivität wäre hier

– und nicht nur hier – eine tolerante Lust am zerstörungsfreien Streiten über Wege und Mög-

lichkeiten zur Abrüstung, über Grenzen und Risiken einseitiger Schritte, über Chancen und

Herausforderungen individuellen Verhaltens notwendig gewesen.

 

Es zeigt sich, wirkliche Toleranz setzt Selbstbewusstsein ebenso voraus wie Achtung des

anderen und so eben auch ein Stückchen innerer „Abrüstung“. Toleranz bedeutet stets die

Anerkennung der Legitimität des anders Denkenden, Glaubenden, Handelnden.

Toleranz bedeutet insofern überhaupt nicht Übernahme der anderen Denkweise oder

Lebensform , aber auf jeden Fall Respekt vor dem Fremden, dem Anderen.

 

Ja – die DDR hat - entgegen dem eigentlichen Gründungsimpuls  am Ende des hoffentlich

letzten Weltkrieges und entgegen den sozialistischen Idealen und Visionen – leider auch dafür

gesorgt, dass viele Menschen so oder so ein kleineres oder größeres Defizit an Toleranz mit

sich herumtragen, manche bis heute.

Das DDR-System war an vielen Stellen autoritär und repressiv, knüpfte in vielen Fällen mehr

an das Preußentum des Drills und der Kaserne an als an das Toleranzedikt von Friedrich II. 

und trug durchaus feudalistische Züge der Unmündigkeit, der Hörigkeit, des Untertanentums.

 

Das alles wird auch nicht dadurch falsch oder unwichtig, wenn man auf das hohe Maß an

Intoleranz verweist, das in den letzten 10 Jahren von Millionen Ostdeutschen erlebt wurde.

Gewiss muss und soll auch über Intoleranz im vereinten Deutschlands weiter nachgedacht

werden, aber es wäre nur ein Rückfall in die o.a. „Balken-Splitter-Denkweise“, wenn man

versuchen würde, das eine mit dem anderen zu relativieren oder gegeneinander aufzurechnen.

Nein, bleiben wir vorerst noch bei dem Eigenen, beim Anteil von Atheisten und Sozialisten 

an Intoleranz in der DDR. Nicht , um ewig nach hinten zu blicken und „aufzurechnen“, son-

dern vor allem , weil Toleranz heute und künftig immer mehr zu einer unverzichtbaren sitt-

liche Eigenschaft in einer modernen, zukunftsfähigen Gesellschaft wird.

Oder es wird keine Zukunft geben!

 

Natürlich wurde in den jetzigen fünf neuen Bundesländern nicht 40 Jahre lang ausschließlich

bestraft, gerichtet,  belehrt, unterdrückt und gedemütigt. Wer das meint (und jeder von uns

kennt ja da den einen oder anderen zeitgenössischen Politiker, Wissenschaftler oder Medien-

profi), der bestätigt  nur sehr alte Vor-Urteile und ein Unkritisch-Sein sich selbst gegenüber,

hält also wichtige Voraussetzungen für Intoleranz am Leben.

In der DDR wurde auch massenhaft erfolgreich gearbeitet und geforscht, zu  Menschlichkeit

und Ehrlichkeit erzogen und gebildet, es gab eine soziale Verantwortung der Unternehmen

und auch existenzsichernde Erwerbsarbeit für alle, es wurde nach mehr Klugheit und Beson-

nenheit im gesellschaftlichen Zusammenleben von Menschen unterschiedlicher Weltsicht

gestrebt, darauf gehofft und gewartet.

Die Gründung der DDR (als Gegengründung zur BRD und deren  Selbstverständnis und

Praxis als Nachfolgestaat des unseligen „Dritten Reiches“ !) war an den Idealen der

Französischen Revolution , an solchen Werten der arbeitenden Menschen wie Gerechtigkeit

und Solidarität, an den Traditionen der von Bebel, Liebknecht und Luxemburg geführten

 

Arbeiterbewegung orientiert.

Manches davon gelang, vor allem im Bereich der sozialen Sicherheit, der Bildung und des

Gesundheitswesen – letztlich scheiterte alles, weil alles erzwungen werden sollte. Man kann

aber Menschen nicht zu ihrem Glück zwingen. Heraus kommt dann immer Gewalt,  Intole-

ranz und Zerstörung innovativer Kräfte. Insofern war die DDR eine Möglichkeit gerechten

und toleranten Zusammenlebens, die auch und nicht zuletzt durch Sturheit, Realitätsverlust,

paranoides Sicherheitsdenken, Wirklichkeitsblindheit und Intoleranz der Verantwortlichen

verspielt wurde. Christoph Hein lässt in seiner Parabel „Die Ritter der Tafelrunde“ einen

dieser Ritter, die allesamt stark an verschiedene Politbüro-Mitglieder in der DDR-Endzeit

erinnern, sagen : „Wir haben unser Leben für eine Zukunft geopfert, die keiner haben will.“

In der Tat !

 

Das Ende der DDR ist jedoch für viele Menschen in Ost und West - darunter erfreulicher-

weise Christen und Atheisten -  nicht das Ende des Nachdenkens über Alternativen des

gesellschaftlichen Zusammenlebens mit mehr Toleranz als gegenwärtig.

 

Viel über die Unumgänglichkeit und Dringlichkeit der Toleranz für ein friedvolles und

gerechtes Zusammenleben der Menschen lässt sich heute noch von Baruch de Spinoza lernen.

Er veröffentlichte 1670, also vor 330 Jahren (!) eine Schrift unter dem Titel „Theologisch-

politischer Traktat“. Im 20.Kapitel begründet er die Notwendigkeit weitgehender Toleranz

und weist die Schädlichkeit der Intoleranz für das politische Gemeinwesen nach.

Einige seiner Gedanken hören sich so aktuell an, dass man zweifeln mag, ob sie schon mehr

als 3 Jahrhunderte alt sind.

 

„Wenn es eben so leicht wäre, die Geister wie die Zungen zu beherrschen, so würde jeder in

Sicherheit regieren, und eine Gewaltherrschaft könnte es nicht geben. Denn dann würde jeder

einzelne nach dem Sinne der Regierenden leben und bloß nach ihrem Entscheid sein Urteil

über Wahr und Falsch, Gut und Böse, Gerecht und Ungerecht richten.“ Aber „niemand kann 

sein natürliches Recht oder seine Fähigkeit, frei zu schließen und über alles zu urteilen , auf

einen anderen übertragen noch kann er zu einer solchen Übertragung gezwungen werden.“ (3) 

Gibt es dennoch solche Versuche, so ist das „nicht ohne große Gefahr für den ganzen Staat“

und „der Erfolg kann nur ein sehr unglücklicher sein“ (4). Es ist überaus gefährlich, wenn

„man in einem Staate versuchen will zu bewirken, daß die Menschen, so verschieden und

entgegengesetzt auch ihre Gedanken sind, bloß nach der Vorschrift der höchsten Gewalten

reden.“(5)  Warnend weist Spinoza darauf hin, welche Folgen Intoleranz gegenüber indivi-

duellen Lebenssichten und Lebensweisen hat. Wenn die Menschen „so in Schranken gehalten

werden , daß sie nicht zu mucken wagten ohne Erlaubnis der höchsten Gewalten“ (6), dann

wäre die „notwendige Folge (...) also, daß die Menschen tagaus, tagein anders redeten, als sie

dächten, und damit würden Treu und Glaube, die dem Staat doch so nötig sind, aufgehoben

und die verächtlichste Heuchelei und Treulosigkeit großgezogen, die Quelle jedes Betrugs

und der Verderb aller guten Sitten.“(7)

 

Beim Wiederlesen solcher Gedanken überfiel mich die Erinnerung an die witzig formulierte,

aber durchaus nicht unernst gemeinte Ansicht mancher Eltern und einiger Lehrer, die Schule

in der DDR würde die Schüler, vor allem in den ideologisch determinierten Fächern Deutsch,

Geschichte und Staatsbürgerkunde mit einem „Tausch“- und einem „Gebrauchswissen“

ausstatten.

Das eine sei erforderlich , um es beim Lehrer gegen gute Zensuren einzutauschen, das andere

brauche man, um sich im Alltag zurechtzufinden.

Für mich war es damals schwer, dagegen rational zu argumentieren. Denn auf mehrfache

Weise war ich in die Vermittlung von Ideologie in der Lehrerausbildung verflochten. Und

auch heute hilft es wenig, wenn ich – nicht völlig zu Unrecht – für mich in Anspruch nehme,

„ketzerische“ Gedanken auch vor Autoritäten offen ausgesprochen, Studenten zum Fragen,

zum Zweifeln gemäß dem Motto des jungen Karl Marx: „De omnibus dubitandum“ und also

zum Nachdenken ermutigt und befähigt zu haben sowie aktiv für einen ergebnisorientierten

Dialog von Marxisten und Christen in der DDR eingetreten zu sein. Insgesamt habe ich nicht

verhindern können, dass Intoleranz dazu beitrug , eigenes Denken und freie Meinungsäuße-

rung zu unterdrücken. Konnte man durchaus Spinozas Warnung, „die Menschen (würden)

gerade um so hartnäckiger auf der Redefreiheit bestehen, je mehr man sie ihnen zu nehmen

trachtet“ (8) nicht beachten (wer las schon Spinoza ?) ; so durfte man eigentlich Engels‘ Hin-

weis nicht übersehen, wonach es klar ist, „daß Verfolgungen das beste Mittel sind, mißliebige

Überzeugungen zu befördern.“ (9)

Wer etwas von den Protestgruppen unter dem Dach der Evangelischen Kirchen in der DDR

weiß , wer sich der Intention des Ausrufs „Wir sind das Volk!“ noch erinnert, wer an den

Liebknecht-Luxemburg-Demonstrationen der SED in Berlin teilgenommen hat, wer die Ein-

sätze der Volks-Polizei gegen große Teile des Volkes am 40.Jahrestag der DDR nicht verges-

sen hat, wem immer mal wieder die Riesenkundgebung auf dem Alex in Berlin am 4.Novem-

ber `89 einfällt – der wird Spinoza und Engels zustimmen.

Die allerwenigsten Mitglieder bzw. Teilnehmer an den eben genannten Gruppen und Zusam-

menkünften waren entschiedene Feinde der DDR und des Sozialismus. Die Mehrheit war eher

von der Art und Weise realer Politik in der DDR, die unter dem Anspruch sozialistischer

Ziele, Wege, Inhalte stand, enttäuscht oder darüber verbittert. Sehr viele Menschen wollten

damals eine andere, eine tolerante DDR. Gegen die Unterdrückung der Redefreiheit stemmen

sich nach Meinung von Spinoza nämlich nicht „die Habgierigen, die Schmeichler und die

anderen Menschen von ohnmächtigem Geist“ (10), „sondern gerade diejenigen, die ihre gute

Erziehung...und die Tugend zu freieren Menschen gemacht haben.“(11) . Intoleranz und

Unterdrückung treffen deshalb überwiegend „nicht die Bösen, sondern die Edlen“ , sie dienen

nicht, „die Übelgesinnten im Zaum zu halten, sondern vielmehr die Anständigen zu erbittern“

(12) Solche Mittel der Unterdrückung „lassen sich ohne große Gefahr für die Regierung nicht

aufrechterhalten.“(13)

Könnte das nicht in der „DDR-Endzeit“ geschrieben sein ?

 

Mit Pathos und nachdrücklichem Ernst fragt Spinoza dann : „Läßt sich ein größeres Unglück

für einen Staat denken, als daß achtbare Männer, bloß weil sie eine abweichende Meinung

haben und nicht zu heucheln verstehen , wie Verbrecher des Landes verwiesen werden ? Was

sage ich, kann verderblicher sein , als wenn Männer nicht wegen eines Verbrechens oder einer

Freveltat, sondern nur weil sie freien Geistes sind, zu Feinden erklärt ...werden“ (14)

 

Was, so frage nun ich, ist dem aus heutiger Sicht mit Blick auf die DDR hinzuzufügen außer

dem, dass es nicht nur für „achtbare Männer“, sondern auch für ebensolche Frauen zutrifft ?

Scharf argumentiert Spinoza, dass nicht die offen redenden Bürger die Unruhestifter und

wahren Friedensstörer sind, sondern vielmehr diejenigen, „die in einem freien Staat die

Freiheit des Urteils, die nicht unterdrückt werden kann, aufheben wollen.“(15)

 

In der Tat ist die DDR ja nicht durch äußere Ursachen zugrunde gegangen ( so sehr äußere

Umstände daran mitgewirkt haben), sondern entscheidend waren die inneren Ursachen, das

Nicht-mehr-Können der „da oben“ und das Nicht-mehr-Wollen der „da unten“.

Spinoza nennt nicht die unwichtigsten inneren Ursachen ! Folgerichtig zieht er den Schluss,

„daß nichts die Sicherheit des Staates besser gewährleistet, als wenn...das Recht der höchsten

Gewalten in geistlichen ebenso wie in weltlichen Dingen sich nur auf Handlungen bezieht, im

übrigen aber jedem das Recht zugestanden wird, zu denken, was er will, und zu sagen, was er

denkt.“(16)

 

 

Intoleranz – Zeitgemäßes und Gesamtdeutsches

 

Vor diesem Hintergrund kann nun auch ein Blick auf die Gegenwart geworfen werden. Denn

auch die bundesdeutsche Gesellschaft ist - wenngleich auf völlig andere Weise als die 

DDR, und das ist ein durchaus wesentlicher Unterschied ! –  intolerant.

 

Die deutsche Einheit ist bekanntlich praktiziert worden als Überstülpen westdeutscher

Verhältnisse, Zustände und Regelungen. Nach Besonderheiten der beiden sehr verschiedenen

Gesellschaften und dem toleranten, achtungsvollen Zusammenführen des größeren und

stärkeren Teils mit dem kleineren und schwächeren ist – bis auf den „Grünen Pfeil“ und das

Sandmännchen – nicht einmal gefragt worden

Das sind schlimme Sätze, aber ich kann sie auch bei längerem Hin- und Herwenden nicht als

falsch erkennen. „Siegern“ fällt es bekanntlich ja oft etwas schwer, Toleranz zu üben und sich

selbst kritisch zu hinterfragen. Der „Besiegte“ hat es da leichter ! Darf er aber auch die Art

und Weise des „Siegers“ in Frage stellen ?  Oder wird er da gleich der Arroganz und

Intoleranz verdächtigt ? Auch hier drei Beispiele.

 

Im Artikel 1 des Grundgesetzes bekennt sich das deutsche Volk zu den unverletzlichen und

unveräußerlichen Menschenrechten. Menschenrechte aber sind unteilbar. Die von 48 Staaten

der Generalversammlung der Vereinten Nationen am 10.12.1948 verabschiedete Allgemeine

Erklärung  der Menschenrechte wird „als das von allen Völkern und Nationen zu erreichende

gemeinsame Ideal“ verkündet mit dem Ziel, dass „jeder einzelne und alle Organe der

Gesellschaft sich diese Erklärung stets gegenwärtig halten und sich bemühen, durch

Unterricht und Erziehung die Achtung dieser Rechte und Freiheiten zu fördern und durch

fortschreitenden Maßnahmen im nationalen und internationalen Bereich ihre allgemeine und

tatsächliche Anerkennung und Verwirklichung... zu gewährleisten“ (Präambel).

 

In den 30 Artikeln der Erklärung sind dann „freiheitliche“ und „soziale“ Menschenrechte

aufgeführt. Zu Zeiten der Block-Konfrontation hat jede Seite die ihr genehmen betont und die

jeweils anderen entweder verschwiegen oder als nicht realisierbar hingestellt. Ist es nach dem

Ende des Kalten Krieges nicht in hohem Maße intolerant , weiterhin nur die Freiheitsrechte zu

betonen? Brauchen wir für eine zukunftsfähiges Deutschland nicht konkrete politische Maß-

nahmen, die auf eine neue Qualität bei der Durchsetzung der sozialen Rechte [z.B. Artikel 22

/Recht auf soziale Sicherheit /, 23 (1) /Recht auf Arbeit / , 23 (2) / Recht auf gleichen Lohn 

für gleiche Arbeit /,  25 (1) / Recht auf  Gesundheit und Wohlbefinden der Familie (17) ] 

zielen und so einen Zugewinn an Toleranz , Gleichberechtigung und Gleichstellung in der

Gesellschaft zu ermöglichen ?

 

Die Bundesregierung verstieß mit der Teilnahme am Krieg im Kosovo nicht nur gegen die

UN-Charta, gegen den NATO-Vertrag, gegen den 2+4-Vertrag, gegen das Grundgesetz,

gegen das deutsche Strafgesetzbuch, und gegen die „rot-grüne“ Koalitionsvereinbarung

Kap.XI, Abschnitt 7, sondern begünstigte dadurch auch politische Intoleranz nach innen wie

nach außen.

Dieser Krieg war materiell nur möglich, weil das einstige (friedenserhaltende!) Gleichgewicht

des Schreckens mit seiner furchterregenden zigfachen overkill-Kapazität einem schrecklichen

Ungleichgewicht der militärischen Kräfte der Nato und z.B. (!) Rest-Jugoslawiens gewichen

war. Dieser Krieg war ideell nur möglich, weil alte Feindbilder, alte Vor-Urteile, alte Partei-

lichkeit, alte Selbstgerechtigkeit , alte Strategien zur Konflikt“lösung“ ( wird eines Tages das

„Massaker von Racak“ als Variante des „Überfalls auf den Sender Gleiwitz“ oder der Vor-

kommnisse im „Golf von Tonking“ benannt werden ?) neu belebt und an die Stelle intelli-

genter, zivilisatorischer Lösungssuche für mehr Toleranz im Umgang der verschiedenen Be-

völkerungsteile und Religionen gesetzt wurden.

 

Die Anmaßung jedoch, das (Völker-)Recht brechen zu können, ist ein untrügliches Anzeichen

für ein Abweichen vom Rechtsstaat.

Die weitgehende Ablehnung des Kosovo-Krieges im Osten deshalb z.B. mit Defiziten der

Ostdeutschen bei der Beachtung und Achtung der Menschenrechte oder mit einer diktatur-

bedingten Anti-NATO-Haltung zu erklären, greift entschieden zu kurz . Ist nicht vielmehr die

Ablehnung eines Krieges als zivilisatorische Errungenschaft und als Versuch, Toleranz zu

leben, zu bewerten ?

 

Viele Ostdeutsche wissen, dass die Vernachlässigung des Rechts im Namen (irgend-)einer

höheren Moral immer die totalitären, autoritären Züge der Intoleranz in sich trägt. Das ist u.a.

auch eine meiner Lernerkenntnisse aus dem Nachdenken über meine Mitbeteiligung an der

Niederlage des sozialistischen Versuchs auf deutschem Boden.

 

Nehmen wir als ein weiteres Beispiel die Zeitungen. Viele informieren  nicht wirklich unab-

hängig, sondern eher interesse- und parteigebunden, bei deutlicher Bevorzugung konserva-

tiver Bewertungsmaßstäbe. „Linke“ Denkmuster und Politikziele sind deshalb oft schon a

priori verdächtig, werden bestenfalls belächelt und schlimmstenfalls sehen sich ihre Träger

verbaler und anderer Gewalt ausgesetzt. Der Mangel an Toleranz gegenüber „linken“ Denk,-

Bewertungs- und Verhaltensweisen ist – nicht nur in der Presse, sondern zuerst bei so

manchem Politiker – erschreckend groß. Erschreckend deshalb, weil doch der Untergang der

sozialistischen Systeme und der „Sieg“ des Westens ganz ursächlich mit der relativen

Lernunfähigkeit des einen und der ständigen Lernfähigkeit des anderen Systems zu tun hat.

Aber wahrscheinlich muss man da die seinerzeit noch vorhandenen „Koordinaten“ in Gestalt

der Block-Konfrontation beachten. Sie zwangen wohl zu einem Maß an Toleranz, auf das

man heute glaubt verzichten zu können.

 

Insofern leben wir überhaupt nicht in einer pluralistischen, toleranten Informationsgesell-

schaft, sondern erfahren, erleben und erleiden einen Sensationsjournalismus, der sich voll auf

die Skandalisierung politischer, kultureller, sozialer Vorgänge konzentriert und dabei sehr oft

eine antisozialistisch begründete Intoleranz an den Tag legt. Gerade durch die Sucht nach der

Quote bedienen viele Medien die Suche nach Feindbildern und Sündenböcken und stärken

bzw. wiederbeleben insofern Intoleranz. Wie soll sich denn politische Toleranz als Tugend

möglichst vieler Menschen entwickeln, wenn ein ganzer Mensch auf einen halben Satz

reduziert wird ? Muss man nicht den Kampf der Medien um Marktanteile als strukturell

bedingte Intoleranz bewerten? Vor allem , wenn man bedenkt, dass Erfahrungen , Normen

und Lebensformen transportiert und vermittelt werden, wie : „Heule mit den Wölfen – das

bringt Dich nach vorne / nach oben“ oder „Hau drauf, das erspart Dir viele Worte und bringt

mächtig viel Anerkennung “ oder „Greif zu, eine Frau ist hauptsächlich Busen und Popo“

oder „Sauf dich voll und fress dich dick und halt dein Maul von Politik“ oder „Egal, woher

der Wind auch weht, Hauptsache mein Mäntelchen hängt richtig drin“. Sind das nicht alles

Regeln, Muster, Vorbilder für das individuellen Verhaltens, die eher nichts mit Toleranz, mit

der Achtung und dem Respekt gegenüber dem Anderen, dem Fremden zu tun haben, sondern

vielmehr das Gegenteil davon ausmachen oder begünstigen ? Hat aber nicht der große , alte

politische Philosoph Italiens Recht, wenn er schreibt, unsere Zeit bringe “ ein wachsendes

Bedürfnis hervor, nicht von einer verlogenen und bedrängenden Propaganda betrogen,

aufgehetzt oder gestört zu werden“ ? (18)

 

So zu fragen muss erlaubt sein, denn Toleranz wird auch für das weitere Vorankommen der

inneren Einheit immer bedeutsamer. Ich denke, es sollte aufhören , dass immer dann, wenn

die Neubundesdeutschen nicht das tun, was die Altbundesdeutschen erwarten, alte Vor-

Urteile aktiv werden und die jeweils „falsche“ Verhaltensweise als ein- (oder zwei) -fach

diktaturbedingtes Phänomen erklärt wird. In dem Maße, wie Westdeutsche nicht nur unsere

Biographien , Leistungen, Misserfolge und Niederlagen nach ihrem Bild von der DDR inter-

pretieren, sondern vor allem kritisches Hinterfragen gesellschaftlicher Zustände im vereinten

Deutschland feindbildgestützt vor-verurteilen bzw. denunzieren, in dem Maße beleben sie

Intoleranz wieder bzw. vertiefen sie die Spaltung. Politisch heißt das, die gemeinsame Zukunft der Deutschen wird so ihrer getrennten Vergangenheit geopfert. Philosophisch heißt

das, aus Furcht vor dem Anderen , dem Fremden, aus defizitärer Selbstgewissheit bleibe ich

sicherheitshalber bei meinem Feindbild und lebe die Intoleranz.  

 

Es ist eine, wahrscheinlich durch sehr alte Vor-Urteile und Unkritisch-Sein sich selbst gegen-

über am Leben gehaltene Vorstellung, im Osten müsse alles so werden, wie im Westen. Die

„Ossis“ sind  mit ihrer Sozialisation, die man ja nicht an einer imaginären gesamtdeutschen

Garderobe abgeben kann - Teil des neuen Deutschland. Neubundesdeutsche gewöhnen sich

z.B. aus ihrer Sozialisation nur schwer daran, dass - stark verkürzt gesprochen - vor den

Chrom- und Glaspalästen der Banken der Bettler sitzt und in den ach-so-schicken Fußgänger-

zonen Obdachlose mit einem Pappschild auf ihre Situation aufmerksam machen.

Neubundesdeutsche haben das starke Empfinden, hier wird die viel gepriesene Chancen-

gleichheit ernsthaft verletzt und die Ungleichstellung der Menschen mit Ungleichachtung

verbunden. Wenn Gedanken und Politikvorschläge, die auf die Lösung solche Zustände

zielen, der Gleichmacherei verdächtigt werden, dann sind offensichtlich nicht nur Uralt-

Vorurteile und Intoleranz im Spiel, sondern es werden große Menschengruppen sowohl aus

einem menschlichen Lebens-Niveau als auch aus dem gesellschaftlichen Diskurs darüber

ausgegrenzt.

Oder will jemand im Ernst „linke“ Ostdeutsche zum Diskurs über die gesamtdeutsche

Zukunft und einen Zuwachs an innergesellschaftlicher Toleranz erst dann zulassen, wenn

bzw. insofern sie ihre Biographie unkenntlich gemacht und /oder vergessen haben ?

Die Abstempelung Andersdenkender als Andersartiger kennt der ehemalige DDR-Bürger und

manche erleben sie heute neu. Wieviel Arroganz und Selbstüberhebung fehlt noch, bis der

Andersartige der Abartige ist ? Gibt es hier vielleicht verdeckte diktaturbedingte Traditions-

linien zu den anmaßenden Vorstellungen schrankenlosester, brutalster  Intoleranz, eine höhere

Spezies sei zur Herrschaft über Untermenschen, über eine niedere Rasse berufen ?

Unstrittig ist die pluralistische Demokratie der Bundesrepublik durchaus ein potenzieller

Vorteil gegenüber den Möglichkeiten von realem Sich-Einbringen-Können in der DDR. Aber

diese Potenzen kommen nur dann wirklich zur Geltung, wenn es auch reale Toleranz gibt.

 

Toleranz – Zusammenfassendes und Zukünftiges

 

Ohne jetzt erneut Spinoza zu bemühen zu wollen , ein paar der o.a. geführten Gedanken  mit

dem Blick auf die deutschen Zustände noch einmal nachzulesen, ist nach Meinung des Autors

nicht völlig nutzlos.

 

Es wird sich zeigen, Toleranz erfordert Zivilcourage und Selbstachtung. Sie hat nichts mit

gedankenlosem, unkritischem Gelten-Lassen von allem und jedem zu tun. Toleranz ist als

wichtige Verhaltenseigenschaft für die Zukunftsfähigkeit der nächsten Generationen nicht

schlechthin Gleichgültigkeit gegenüber dem Anderen, dem Fremden. Sie ist vielmehr geprüfte

Anerkennung des Andersseins und Akzeptanz des Rechts des anderen auf sein Anderssein.

Eine solche Verhaltensweise wird nicht nur Individuen abgefordert werden, soll die Mensch-

heit auf der Erde noch -zig Generationen weiterexistieren, sie wird auch von Parteien,

Parlamenten, Regierungen und öffentlicher Meinung zu fordern sein.  Toleranz ist so gesehen

die „Entscheidung für Überredung und Überzeugung und gegen Gewalt und Zwang“. In ihr

kommt „ein aktives Vertrauen in die Vernunft oder die Vernünftigkeit des anderen „ zum

Ausdruck. (19) 

 

Toleranz ist niemals und niemandem angeboren , sie wird im besten Sinne des Wortes

anerzogen und ist insofern ein wichtiges Ergebnis gelungener Sozialisation des einzelnen.

Darauf haben sowohl die Eltern, als auch  - in einem derzeit eher unterschätzten Umfang –

die Parteien, Parlamente und Regierungen ebenso wie Politiker und Journalisten Einfluss.

 

Toleranz ist engstens verflochten mit der Umsetzung der „Goldenen Regel“ aus der Berg-

predigt, die von jedem fordert, den Andersgläubigen, den Fremdartige, den anders Aussehen-

den, den anders Denkenden (!) so zu behandeln, wie man selbst von ihm behandelt werden

möchte. Ein Deutschland, das in der Welt immer wieder durch Ausländerfeindlichkeit und

Rechtsextremismus auffällt; ein Deutschland, das durch Internet und weltweite Wirtschafts-

verflechtung gekennzeichnet ist ; ein Deutschland, in dem tiefgreifende sozialen Polarisie-

rungen und Spannungen existieren  – in einem solchen Deutschland wird es für die Zukunfts-

gewinnung wichtiger als je zuvor, dass Menschen lernen : ihr individueller Wert wird nur

dann akzeptiert, wenn sie selber den gleichen Wert der anderen akzeptieren. 

 

Natürlich gibt es auch Grenzen der Toleranz. M.E. sind sie sowohl da zu finden, wo die

Forderung nach Toleranz ( fälschlicherweise! ) dazu genutzt wird , den Status quo der

Ungleichheit zu bewahren als auch dort, wo strukturelle und physische Gewalt verdeckt,

verschleiert, beschönigt wird und so ihre Überwindung verhindert werden soll. „Die Toleranz

muß sich auf alle Menschen erstrecken, ausgenommen diejenigen, die das Prinzip der

Toleranz leugnen. Kurz gesagt, alle, außer den Intoleranten, müssen toleriert werden.“(20)  

 

Ein wichtiger Schritt zu mehr gelebter Toleranz in Deutschland könnte es schon sein, wenn

nicht nur in dieser Dialog-Zeitschrift über die fatalen Mechanismen von Despotismus und

Tyrannei , von Unmenschlichkeit und Brutalität, von Parteilichkeit und Fundamentalismus ,

von Fanatismus und Beschränktheit, von Einseitigkeit und Verblendung, von Selbstherrlich-

keit und – gerechtigkeit, von Voreingenommenheit und Rechthaberei, von Verzerrung in der

Realitätswahrnahme und von eigenen Vor-Urteilen diskutiert und darüber hinaus diese

Diskussion durch politisch gewollte Ausprägung sozialer Gerechtigkeit gestärkt und gestützt

würde .

 

Natürlich – das belegen u.a. die wenigen ausgewählten Beispiele in diesem Artikel - ist der

Weg über die Schaffung sozial gerechter Zustände und wirklicher Gesellschaftlichkeit der

Individuen zu einer die Toleranz lebenden Gesellschaft weitaus komplizierter, schwieriger

und steiniger als die Zusammenführung des größten Teils der Gesellschaft gegen den anderen

Teil durch die Propagierung eines klischeehaften Feindbildes.

 

Genau deswegen stehen Machthabende und Regierende (was ja nicht dasselbe ist!) immer in

der latenten Gefahr, feindbilddurchsetzte, fanatische, aggressive, nationalistische, fremden-

feindliche Stimmungen und Meinungen nicht nur auszulösen, sondern auch zu nutzen.

 

Eine Demokratie (also jeder Demokrat !) wird sich in solcher Situation dadurch auszeichnen,

dass sie / er lernfähig ist, dass sie / er die Korrektur von Fehlern angstfrei ermöglicht und den

Weg in die Sackgasse politischer Intoleranz , in die extreme Zuspitzung sozialökonomischer

Gegensätze aus Gründen der Sicherung und Stärkung des eigenen Gemeinwesens , aus Grün-

den eines friedvollen Zusammenlebens von Menschen mit politischen ,sozialen, ideellen ,

finanziellen Unterschiedlichkeiten vermeidet.  

 

Es ist demokratie- , toleranz-  und letztlich gesellschaftszerstörend - wenn Ostdeutsche ständig neu erfahren -, dass unser System zwar mehr als ihr altes System produziert, aber

dieses Mehr auf zunehmend ungleichere Weise verteilt und so den Weg zu mehr politischer

und sozialer Intoleranz neu pflastert. Bejahung der Marktwirtschaft kann doch nicht bedeuten,

alles gedankenlos, unkritisch gut zu heißen, was existiert oder was mit dem Wort

„Sachzwang“ betitelt wird. Bejahung der Marktwirtschaft kann nicht durch das Nachbeten

von Formeln erzwungen werden, die „von oben“ kommen und u.U. nur die Meinung der

Herrschenden wiedergeben. Bejahung einer sozialen (!) Marktwirtschaft schließt ein,

Auswüchse und bösartige Wucherungen eben Krebsgeschwür zu nennen und nach der

Diagnose politische Schritte zu gehen, die als „Therapie“ wirken. Für mehr gelebte Toleranz

müssen wir z.B. weg von der Vergötzung des Marktes und „zurück“ zu den Zielen der Mütter

und Väter des Grundgesetzes, die nicht schrankenlosen Egoismus wollten und deshalb (!) u.a.

dem Eigentum zugleich eine Gemeinwohlverpflichtung auferlegten (GG, Art.14).

 

Eine auf mehr Toleranz zielende Diskussion könnte z.B. unter der Frage stehen : Wie wollen

wir Deutschen im 21.Jahrhundert leben ? Zugespitzt hieße das u.a. : Es kann nicht nur um den

Standort Deutschland gehen. Deutschland ist mehr als ein Standort (der Wirtschaft), es ist

auch (oder zuerst ?) Lebensort der Deutschen und vieler anderer Menschen.

Nichts ist gegen die Wirtschaft oder die Wirtschaftlichkeit zu sagen, aber es gilt - wenn wir

eine engere Verbindung zwischen ökonomischer Stärke des Landes und einem kulturvollen

Leben sehr unterschiedlicher Menschen in Deutschland wollen :  Ohne mehr Wirtschaft-

lichkeit erreichen wir die Zukunft nicht , ohne mehr Toleranz und Gerechtigkeit ertragen wir

sie nicht !


1                     Karl Marx: Grundrisse der Kritik der Politischen Ökonomie, Berlin 1953, S.22

2              Ziemlich klar werden die Bedingungen genannt, unter denen vollständige Abrüstung möglich wird : „Dann schmieden sie aus ihren Schwertern Pflugscharen und aus den Spitzen ihrer Speere Winzer-messer. Kein Volk wird mehr das andere angreifen und keiner lernt mehr das Kriegshandwerk. Jeder wird in Frieden zwischen seinen Feigenbäumen und Weinstöcken wohnen, keiner braucht sich mehr zu fürchten.“ (Micha, 4,3f)

 Zitiert in : Die Bibel in heutigem Deutsch. Evangelische Haupt-Bibelgesellschaft zu Berlin und Altenburg 1983 , S.820

                Um weitere Verbrechen nach der Verschleppung  junger Männer und dem Diebstahl von Silber und Gold zu verhindern – so geht es aus dem Kontext hervor  - wird gefordert: „Rüstet euch zum Kampf! Stellt eure Truppen auf. Laßt alle eure wehrfähigen Männer antreten und marschieren. Schmiedet aus euren Pflugscharen  Schwerter und macht aus euren Winzermessern Speerspitzen. Noch der Schwächste soll erklären: Ich kämpfe wie ein Löwe.“ (Joel, 4,9f)

                Ebenda, S.807

3              Baruch de Spinoza : Sämtliche Werke, Bd.3, Felix Meiner Verlag Hamburg 1994, S. 299

4                     Ebenda, S.300

5                     Ebenda,

6                     Ebenda, S.304

7                     Ebenda,

8                     Ebenda, S.305

9                     F.Engels : Flüchtlingsliteratur. In : MEW, Bd. 18, S.532

10                  Baruch de Spinoza : Sämtliche Werke, Bd.3, Felix Meiner Verlag Hamburg 1994, S.305

11                  Ebenda,

12                  Ebenda,

13                  Ebenda,

14                  Ebenda, S.306

15                  Ebenda, S.308

16                  Ebenda, S.309

17                  Allgemeine Erklärung der Menschenrechte. In: Noberto Bobbio : Das Zeitalter der Menschenrechte. Ist Toleranz durchsetzbar ? Verlag Klaus Wagenbach Berlin 1998, S.108 ff

18                  Noberto Bobbio : Das Zeitalter der Menschenrechte. Ist Toleranz durchsetzbar ? Verlag Klaus Wagenbach Berlin 1998, S.17

19                  Ebenda, S.93

20                  Ebenda, S.103