Fernsehbilder
führten uns kürzlich den Massen(selbst)mord einer christlichen Sekte in
Uganda
vor Augen ; in Erinnerung sind religiös
motivierte Mordanschläge auf US-
amerikanische
Ärzte, die Abtreibungen durchführen; wir wissen von den Mordtaten der
Hisbollah,
der „Partei Gottes“; wir haben Kenntnis von Hindus, die Christen jagen
und
Moscheen
zerstören ; wir waren Zeitzeugen für die Verbrechen der
Milosevic-Anhänger an
Kosovo-Albanern
und sehen jetzt oft (trotz oder wegen dem NATO-Krieg und der jetzigen
Truppenstationierung
?) Zeichen der Vergeltung .
Wir
Deutschen erinnern uns immer wieder und werden zu Recht immer wieder
auch daran
gemahnt – damit sich ähnliches (gerade angesichts
des alltäglichen Rechtsextremismus,
Rassismus
und Antisemitismus) nie wiederhole! - den millionenfachen Mord der
deutschen
Nazis
an den Juden Europas nicht zu vergessen. Insbesondere wir
DDR-Sozialisten
müssen
uns
weiterhin auch an die Morde des stalinistischen Unterdrückungssystems
erinnern,
die mit
den
Worten „Säuberung“ und „GULAG“ verbunden sind und dürfen die Augen
nicht vor
dem
Unrecht
verschließen, das mit Praktiken des MfS verbunden war.
An
all das (und manches nicht Genannte) muss gedacht werden, wenn das
Thema
Toleranz in
Deutschland
auf der Tagesordnung steht, denn Intoleranz und daraus folgende Gewalt
sind ein
gesellschafts-
und generationenübergreifendes Phänomen menschlicher Un(-Kultur).
Über
all das soll hier aber dennoch aus einem einzigen Grunde nicht
geschrieben
werden:
Alle
Gesellschaften und alle Generationen erkannten und erkennen leichter
den
Despotismus
und
die Tyrannei , die Unmenschlichkeit und die Brutalität, die
Parteilichkeit und
den Funda-
mentalismus
, den Fanatismus und die Beschränktheit, die Einseitigkeit und die
Verblendung,
die
Selbstherrlichkeit und – gerechtigkeit, die Voreingenommenheit und die
Rechthaberei, die
Verzerrung
in der Realitätswahrnahme und das Vor-Urteil bei den anderen als bei
sich
selbst.
Stets
wird der Splitter im Auge des anderen, des Fremden gesehen, oft größer
als er
ist. Der
Balken
im eigenen Auge jedoch wird übersehen oder geleugnet. Toleranz ist
jedoch vor
allem
ein
Forderung an sich selbst, eine Auseinandersetzung mit dem Eigenen!
Traditionell
wurde der Begriff „Toleranz“ für die Duldung abweichender religiöser
Bekennt-
nisse
durch die Mehrheit verwendet. Heute, in einer Zeit um sich greifender
Säkularisierung,
wird
er zunehmend ein politischer Begriff
für die Duldung und Akzeptanz
anderer Lebens-
weisen, anderen Verhaltens, anderer Kultur benutzt.
Worin
liegt eigentlich der Hauptgrund , das Hauptmotiv dafür, dass der
Andersgläubige, der
Fremdartige,
der anders Aussehende, der anders Denkende (!)
herabgesetzt, abgewehrt,
abgelehnt,
verfolgt, unterdrückt wird ?
Schaut
man auf den Einzelfall, sind es stets unterschiedliche Beweggründe.
Sucht man
die
wesentliche
Gemeinsamkeit , dann zeigt sich : Der anderen Lebensart, der anderen
Denk- und
Verhaltensweise,
der anderen Überzeugung begegnet man mit Intoleranz, weil dadurch die
eigene
Art zu leben, zu denken, zu glauben , scheinbar in Frage gestellt wird.
Lebt,
handelt, denkt, glaubt einer nicht so wie ich, dann entsteht bei mir
eine
Verunsicherung.
Je
mehr ich mir meiner eigenen Sache unsicher bin, desto stärker wird das
Bedürfnis, den
anderen
auszuschalten, zu beseitigen. Je schwächer das Bewusstsein der eigenen
Identität ist,
je
geringer das Selbstwertgefühl entwickelt ist, desto größer ist die
Gefahr der
Intoleranz.
Dabei
existiert natürlich eine große Spannbreite, sie reicht z.B. vom
Ausschluss an
der
Erörterung
allgemeiner Aufgaben über individuelle Gewalt bis hin zur organisierten
physischen
Vernichtung großer Menschengruppen .
Mit
dem historischen Blick auf das Eigene lassen sich eine Vielzahl von
Belegen
dafür
anführen,
dass Intoleranz etwas mit fehlender Selbstgewissheit, mit Defiziten in
der
Festigkeit
der
eigenen Überzeugung zu tun hat .
Dreifach
thematisch ausgewählt soll diese Aussage veranschaulicht werden.
Die
Diskriminierung der „Jungen Gemeinde“ in der DDR der 50-er Jahre mit
ihren
Versu-
chen,
über offene gesellschaftliche Fragen auch offen zu diskutieren, hatte
nur ganz
entfernt
etwas
damit zu tun, dass der eine oder andere Angehörige mit „dem Westen“
liebäugelte
oder
gar
ein „gedungener Agent“ war. Vor allem fühlte sich die junge Staatsmacht
verunsichert,
weil
sie mit der FDJ – die gerade von einer antifaschistisch-demokratischen
Jugendorgani-
sation
in allen vier Besatzungszonen (!) unter
bewusstem Einschluss christlicher Jugendlicher
(!) zur „Kampfreserve der
Partei“ in der SBZ/DDR umgemodelt wurde – nur Gleichschaltung
und
Linientreue , also wenig Attraktives
entgegenzusetzen hatte.
Die
Behinderung der Lebenswege vieler Christen in der DDR hatte gewiss
etwas damit
zu
tun,
dass es „Kaderentwicklungsprinzipien„ gab. Vor allem aber ist die
Ausgrenzung
christ-
licher
Bürger damit zu erklären, dass leitende Genossen nicht wahrhaben
wollten und /
oder
nicht
ertragen konnten, dass Menschen auch ohne „sozialistisches Bewusstsein“
Erfolg
im
Beruf,
in der Gesellschaft haben konnten. Insofern sind die
„Kaderentwicklungsprinzipien„
und
ihre rigide Durchsetzung selbst ein Anzeichen für die Angst vor dem
anderen,
für Schutz-
mechanismen
vor dem Fremden.
Wo
es für Christen in der DDR weniger oder keine Behinderungen gab – und
auch das
muss
man
um der historischen Wahrheit willen festhalten - , da war das entweder
klugen,
kulturell
gebildeten Verantwortlichen geschuldet ,
Menschen also, die sich ihrer selbst sicher
waren ,
oder
aber es wurde aus politisch-taktischen Gründen die Intoleranz eben
gerade mal
auf
„Sparflamme“
gekocht.
Und
auch das Gegenteil ist wahr. Da, wo die Behinderung in Zerstörung von
Lebenswegen
umschlug,
wo Drangsalierung und Inhaftierung praktiziert wurden, da verfügten die
Verant-
wortlichen
„bestenfalls“ über holzschnittartige Verballhornungen marxistischer
Termini und
/
oder
waren schlechtestenfalls auf der Grundlage eines klaren „Feindbildes“
einfach
gehorsam
Entweder
dachten sie flach und falsch, z.B. waren sie der Meinung, die
„wissenschaftliche
Weltanschauung“
(über die natürlich sie zu verfügten glaubten) sei gegenüber der
religiösen
Sicht
die höhere und ergo bessere. Das führten sie auch noch auf
Marx zurück ! Der jedoch
hatte
u.a. die wissenschaftliche und die religiöse Anschauung der Welt
lediglich als
jeweils
andere
, also
voneinander zu unterscheidende Aneignungsweisen der Welt
charakterisiert und
sie
in keiner Weise einander über- oder untergeordnet.(1)
Bei
blindem Gehorsams hingegen dachten die Verantwortlichen überhaupt
nicht. Für
das eine
wie
das andere Verhalten (und oft gab es ja Überlappungen!) gilt : man war
sich der
eigenen
Lebenshaltung
und Überzeugung nicht sicher, man kannte nur eine vulgäre Verkürzung von
Begründungen
für das Eigene oder scherte sich einen Dreck um Begründungen für das
eigene
Tun
und Lassen, weil die „Genossen da oben sich schon was dabei gedacht
haben
werden“.
Die
Anweisung der Bildungsverantwortlichen, den Aufnäher „Schwerter zu
Pflugscharen“
auf
den Ärmeln von Kindern und Jugendlichen zu entfernen, führte dazu, dass
sowohl
Kleidungsstücke
als auch und vor allem Menschenseelen der beteiligten Heranwachsenden,
ihrer Eltern und vieler Lehrer beschädigt wurden.
Aus Unsicherheit über die eigene Auffassung zum Thema Abrüstung, aus Angst vor Argu-
menten, die das eigene Nachdenken herausfordern könnten, setzten die (bildungs-)politisch
Verantwortlichen auf Gewalt und Ausgrenzung . Nur wenige waren in der Lage, zu begrün-
den, dass eine Welt ohne Waffen ein Ideal auch der Sozialisten ist und also hier eher Gemein-
samkeiten in den Grundfragen existierte. Über den Weg dahin bei einander feindlichen Mili-
tärblöcken mit x-facher overkill-Kapazität wäre dann schon zu streiten gewesen. Aber dazu
kam es überwiegend erst gar nicht. Denn: noch weniger hatten die Zivilcourage, solche Dis-
kussionen anzuzetteln oder mitzugestalten und verblieben lieber in stumpfer Passivität . Und
wiederum noch viel weniger wussten, dass die Bibel auch den umgekehrten Spruch, enthält,
nämlich Pflugscharen zu Schwertern zu machen. (2)
Statt
ängstlicher Intoleranz mit ihrem immanenten Drang zu dumpfer
Aggressivität wäre
hier
–
und nicht nur hier – eine
tolerante Lust am zerstörungsfreien Streiten über Wege und Mög-
lichkeiten
zur Abrüstung, über Grenzen und Risiken einseitiger Schritte, über
Chancen und
Herausforderungen
individuellen Verhaltens notwendig gewesen.
Es
zeigt sich, wirkliche Toleranz setzt Selbstbewusstsein ebenso voraus
wie
Achtung des
anderen
und so eben auch ein Stückchen innerer „Abrüstung“. Toleranz bedeutet
stets die
Anerkennung
der Legitimität des anders Denkenden, Glaubenden, Handelnden.
Toleranz
bedeutet insofern überhaupt nicht Übernahme der anderen Denkweise oder
Lebensform
, aber auf jeden Fall Respekt vor dem Fremden, dem Anderen.
Ja
– die DDR hat - entgegen dem eigentlichen Gründungsimpuls
am Ende des hoffentlich
letzten
Weltkrieges und entgegen den sozialistischen Idealen und Visionen –
leider auch
dafür
gesorgt,
dass viele Menschen so oder so ein kleineres oder größeres Defizit an
Toleranz
mit
sich
herumtragen, manche bis heute.
Das
DDR-System war an vielen Stellen autoritär und repressiv, knüpfte in
vielen
Fällen mehr
an
das Preußentum des Drills und der Kaserne an als an das Toleranzedikt
von Friedrich
II.
und
trug durchaus feudalistische Züge der Unmündigkeit, der Hörigkeit, des
Untertanentums.
Das
alles wird auch nicht dadurch falsch oder unwichtig, wenn man auf das
hohe Maß
an
Intoleranz
verweist, das in den letzten 10 Jahren von Millionen Ostdeutschen
erlebt wurde.
Gewiss
muss und soll auch über Intoleranz im vereinten Deutschlands weiter
nachgedacht
werden,
aber es wäre nur ein Rückfall in die o.a. „Balken-Splitter-Denkweise“,
wenn man
versuchen
würde, das eine mit dem anderen zu relativieren oder gegeneinander
aufzurechnen.
Nein,
bleiben wir vorerst noch bei dem Eigenen, beim Anteil von Atheisten und
Sozialisten
an
Intoleranz in der DDR. Nicht , um ewig nach hinten zu blicken und
„aufzurechnen“, son-
dern
vor allem , weil Toleranz heute und künftig immer mehr zu einer
unverzichtbaren
sitt-
liche
Eigenschaft in einer modernen, zukunftsfähigen Gesellschaft wird.
Oder
es wird keine Zukunft geben!
Natürlich
wurde in den jetzigen fünf neuen Bundesländern nicht 40 Jahre lang
ausschließlich
bestraft,
gerichtet, belehrt, unterdrückt und
gedemütigt. Wer das meint (und jeder von uns
kennt
ja da den einen oder anderen zeitgenössischen Politiker,
Wissenschaftler oder
Medien-
profi),
der bestätigt nur sehr alte Vor-Urteile
und ein Unkritisch-Sein sich selbst gegenüber,
hält also wichtige Voraussetzungen für Intoleranz am Leben.
In der DDR wurde auch massenhaft erfolgreich gearbeitet und geforscht, zu Menschlichkeit
und Ehrlichkeit erzogen und gebildet, es gab eine soziale Verantwortung der Unternehmen
und auch existenzsichernde Erwerbsarbeit für alle, es wurde nach mehr Klugheit und Beson-
nenheit im gesellschaftlichen Zusammenleben von Menschen unterschiedlicher Weltsicht
gestrebt, darauf gehofft und gewartet.
Die
Gründung der DDR (als Gegengründung zur BRD und deren
Selbstverständnis und
Praxis
als Nachfolgestaat des unseligen „Dritten Reiches“ !) war an den
Idealen der
Französischen
Revolution , an solchen Werten der arbeitenden Menschen wie
Gerechtigkeit
und
Solidarität, an den Traditionen der von Bebel, Liebknecht und Luxemburg
geführten
Arbeiterbewegung
orientiert.
Manches
davon gelang, vor allem im Bereich der sozialen Sicherheit, der Bildung
und des
Gesundheitswesen
– letztlich scheiterte alles, weil alles erzwungen werden sollte. Man
kann
aber
Menschen nicht zu ihrem Glück zwingen. Heraus kommt dann immer Gewalt, Intole-
ranz
und Zerstörung innovativer Kräfte. Insofern war die DDR eine
Möglichkeit
gerechten
und
toleranten Zusammenlebens, die auch und nicht zuletzt durch Sturheit,
Realitätsverlust,
paranoides
Sicherheitsdenken, Wirklichkeitsblindheit und Intoleranz der
Verantwortlichen
verspielt
wurde. Christoph Hein lässt in seiner Parabel „Die Ritter der
Tafelrunde“ einen
dieser
Ritter, die allesamt stark an verschiedene Politbüro-Mitglieder in der
DDR-Endzeit
erinnern,
sagen : „Wir haben unser Leben für eine Zukunft geopfert, die keiner
haben
will.“
In
der Tat !
Das
Ende der DDR ist jedoch für viele Menschen in Ost und West - darunter
erfreulicher-
weise
Christen und Atheisten - nicht das Ende
des Nachdenkens über Alternativen des
gesellschaftlichen
Zusammenlebens mit mehr Toleranz als gegenwärtig.
Viel
über die Unumgänglichkeit und Dringlichkeit der Toleranz für ein
friedvolles
und
gerechtes
Zusammenleben der Menschen lässt sich heute noch von Baruch de Spinoza
lernen.
Er
veröffentlichte 1670, also vor 330 Jahren (!) eine Schrift unter dem
Titel
„Theologisch-
politischer
Traktat“. Im 20.Kapitel begründet er die Notwendigkeit weitgehender
Toleranz
und
weist die Schädlichkeit der Intoleranz für das politische Gemeinwesen
nach.
Einige
seiner Gedanken hören sich so aktuell an, dass man zweifeln mag, ob sie
schon
mehr
als
3 Jahrhunderte alt sind.
„Wenn es eben so leicht wäre, die Geister wie die Zungen zu beherrschen, so würde jeder in
Sicherheit regieren, und eine Gewaltherrschaft könnte es nicht geben. Denn dann würde jeder
einzelne nach dem Sinne der Regierenden leben und bloß nach ihrem Entscheid sein Urteil
über Wahr und Falsch, Gut und Böse, Gerecht und Ungerecht richten.“ Aber „niemand kann
sein natürliches Recht oder seine Fähigkeit, frei zu schließen und über alles zu urteilen , auf
einen anderen übertragen noch kann er zu einer solchen Übertragung gezwungen werden.“ (3)
Gibt es dennoch solche Versuche, so ist das „nicht ohne große Gefahr für den ganzen Staat“
und „der Erfolg kann nur ein sehr unglücklicher sein“ (4). Es ist überaus gefährlich, wenn
„man in einem Staate versuchen will zu bewirken, daß die Menschen, so verschieden und
entgegengesetzt auch ihre Gedanken sind, bloß nach der Vorschrift der höchsten Gewalten
reden.“(5) Warnend weist Spinoza darauf hin, welche Folgen Intoleranz gegenüber indivi-
duellen Lebenssichten und Lebensweisen hat. Wenn die Menschen „so in Schranken gehalten
werden , daß sie nicht zu mucken wagten ohne Erlaubnis der höchsten Gewalten“ (6), dann
wäre die „notwendige Folge (...) also, daß die Menschen tagaus, tagein anders redeten, als sie
dächten, und damit würden Treu und Glaube, die dem Staat doch so nötig sind, aufgehoben
und die verächtlichste Heuchelei und Treulosigkeit großgezogen, die Quelle jedes Betrugs
und der Verderb aller guten Sitten.“(7)
Beim
Wiederlesen solcher Gedanken überfiel mich die Erinnerung an die witzig
formulierte,
aber
durchaus nicht unernst gemeinte Ansicht mancher Eltern und einiger
Lehrer, die
Schule
in
der DDR würde die Schüler, vor allem in den ideologisch determinierten
Fächern
Deutsch,
Geschichte
und Staatsbürgerkunde mit einem „Tausch“- und einem „Gebrauchswissen“
ausstatten.
Das
eine sei erforderlich , um es beim Lehrer gegen gute Zensuren
einzutauschen,
das andere
brauche
man, um sich im Alltag zurechtzufinden.
Für
mich war es damals schwer, dagegen rational zu argumentieren. Denn auf
mehrfache
Weise
war ich in die Vermittlung von Ideologie in der Lehrerausbildung
verflochten.
Und
auch
heute hilft es wenig, wenn ich – nicht völlig zu Unrecht – für mich in
Anspruch
nehme,
„ketzerische“
Gedanken auch vor Autoritäten offen ausgesprochen, Studenten zum
Fragen,
zum
Zweifeln gemäß dem Motto des jungen Karl Marx: „De omnibus dubitandum“
und also
zum
Nachdenken ermutigt und befähigt zu haben sowie aktiv für einen
ergebnisorientierten
Dialog
von Marxisten und Christen in der DDR eingetreten zu sein. Insgesamt
habe ich
nicht
verhindern
können, dass Intoleranz dazu beitrug , eigenes Denken und freie
Meinungsäuße-
rung
zu unterdrücken. Konnte man durchaus Spinozas Warnung, „die Menschen
(würden)
gerade
um so hartnäckiger auf der Redefreiheit bestehen, je mehr man sie ihnen
zu
nehmen
trachtet“
(8) nicht beachten (wer las schon Spinoza ?) ; so durfte man eigentlich
Engels‘
Hin-
weis
nicht übersehen, wonach es klar ist, „daß Verfolgungen das beste Mittel
sind,
mißliebige
Überzeugungen
zu befördern.“ (9)
Wer
etwas von den Protestgruppen unter dem Dach der Evangelischen Kirchen
in der
DDR
weiß
, wer sich der Intention des Ausrufs „Wir
sind das Volk!“ noch erinnert, wer an den
Liebknecht-Luxemburg-Demonstrationen
der SED in Berlin teilgenommen hat, wer die Ein-
sätze
der Volks-Polizei gegen große Teile des Volkes am 40.Jahrestag der DDR
nicht
verges-
sen
hat, wem immer mal wieder die Riesenkundgebung auf dem Alex in Berlin
am
4.Novem-
ber
`89 einfällt – der wird Spinoza und Engels zustimmen.
Die
allerwenigsten Mitglieder bzw. Teilnehmer an den eben genannten Gruppen
und
Zusam-
menkünften
waren entschiedene Feinde der DDR und des Sozialismus. Die Mehrheit war
eher
von
der Art und Weise realer Politik in der DDR, die unter dem Anspruch
sozialistischer
Ziele,
Wege, Inhalte stand, enttäuscht oder darüber verbittert. Sehr viele
Menschen
wollten
damals eine andere, eine tolerante
DDR. Gegen die Unterdrückung der Redefreiheit stemmen
sich
nach Meinung von Spinoza nämlich nicht „die Habgierigen, die
Schmeichler und
die
anderen
Menschen von ohnmächtigem Geist“ (10), „sondern gerade diejenigen, die
ihre
gute
Erziehung...und
die Tugend zu freieren Menschen gemacht haben.“(11) . Intoleranz und
Unterdrückung
treffen deshalb überwiegend „nicht die Bösen, sondern die Edlen“ , sie
dienen
nicht,
„die Übelgesinnten im Zaum zu halten, sondern vielmehr die Anständigen
zu
erbittern“
(12)
Solche Mittel der Unterdrückung „lassen sich ohne große Gefahr für die
Regierung nicht
aufrechterhalten.“(13)
Könnte
das nicht in der „DDR-Endzeit“ geschrieben sein ?
Mit
Pathos und nachdrücklichem Ernst fragt Spinoza dann : „Läßt sich ein
größeres
Unglück
für
einen Staat denken, als daß achtbare Männer, bloß weil sie eine
abweichende
Meinung
haben
und nicht zu heucheln verstehen , wie Verbrecher des Landes verwiesen
werden ?
Was
sage
ich, kann verderblicher sein , als wenn Männer nicht wegen eines
Verbrechens
oder einer
Freveltat,
sondern nur weil sie freien Geistes sind, zu Feinden erklärt ...werden“
(14)
Was,
so frage nun ich, ist dem aus heutiger Sicht mit Blick auf die DDR
hinzuzufügen
außer
dem,
dass es nicht nur für „achtbare Männer“, sondern auch für ebensolche
Frauen
zutrifft ?
Scharf
argumentiert Spinoza, dass nicht die offen redenden Bürger die
Unruhestifter
und
wahren
Friedensstörer sind, sondern vielmehr diejenigen, „die in einem freien
Staat
die
Freiheit
des Urteils, die nicht unterdrückt werden kann, aufheben wollen.“(15)
In
der Tat ist die DDR ja nicht durch äußere Ursachen zugrunde gegangen (
so sehr
äußere
Umstände
daran mitgewirkt haben), sondern entscheidend waren die inneren
Ursachen, das
Nicht-mehr-Können der „da oben“ und das Nicht-mehr-Wollen der „da unten“.
Spinoza nennt nicht die unwichtigsten inneren Ursachen ! Folgerichtig zieht er den Schluss,
„daß nichts die Sicherheit des Staates besser gewährleistet, als wenn...das Recht der höchsten
Gewalten in geistlichen ebenso wie in weltlichen Dingen sich nur auf Handlungen bezieht, im
übrigen aber jedem das Recht zugestanden wird, zu denken, was er will, und zu sagen, was er
denkt.“(16)
Intoleranz
–
Zeitgemäßes und Gesamtdeutsches
Vor
diesem Hintergrund kann nun auch ein Blick auf die Gegenwart geworfen
werden.
Denn
auch
die bundesdeutsche Gesellschaft ist -
wenngleich auf völlig andere Weise als die
DDR,
und das ist ein
durchaus wesentlicher Unterschied ! –
intolerant.
Die
deutsche Einheit ist bekanntlich praktiziert
worden als Überstülpen westdeutscher
Verhältnisse,
Zustände und Regelungen. Nach
Besonderheiten der beiden sehr verschiedenen
Gesellschaften
und dem toleranten, achtungsvollen
Zusammenführen des größeren und
stärkeren
Teils mit dem kleineren und schwächeren
ist – bis auf den „Grünen Pfeil“ und das
Sandmännchen
– nicht einmal gefragt worden
Das sind
schlimme Sätze, aber ich kann sie auch bei
längerem Hin- und Herwenden nicht als
falsch
erkennen. „Siegern“ fällt es bekanntlich ja
oft etwas schwer, Toleranz zu üben und sich
selbst
kritisch zu hinterfragen. Der „Besiegte“ hat
es da leichter ! Darf er aber auch die Art
und Weise
des „Siegers“ in Frage stellen ? Oder wird
er da gleich der Arroganz und
Intoleranz
verdächtigt ? Auch hier drei Beispiele.
Im Artikel
1 des Grundgesetzes bekennt sich das
deutsche Volk zu den unverletzlichen und
unveräußerlichen
Menschenrechten. Menschenrechte
aber sind unteilbar. Die von 48 Staaten
der
Generalversammlung der Vereinten Nationen am
10.12.1948 verabschiedete Allgemeine
Erklärung
der Menschenrechte wird „als das von allen Völkern und Nationen
zu
erreichende
gemeinsame
Ideal“ verkündet mit dem Ziel, dass
„jeder einzelne und alle Organe der
Gesellschaft
sich diese Erklärung stets gegenwärtig
halten und sich bemühen, durch
Unterricht
und Erziehung die Achtung dieser Rechte
und Freiheiten zu fördern und durch
fortschreitenden
Maßnahmen im nationalen und
internationalen Bereich ihre allgemeine und
tatsächliche
Anerkennung und Verwirklichung... zu
gewährleisten“ (Präambel).
In den 30
Artikeln der Erklärung sind dann
„freiheitliche“ und „soziale“ Menschenrechte
aufgeführt.
Zu Zeiten der Block-Konfrontation hat
jede Seite die ihr genehmen betont und die
jeweils
anderen entweder verschwiegen oder als nicht
realisierbar hingestellt. Ist es nach dem
Ende des
Kalten Krieges nicht in hohem Maße
intolerant , weiterhin nur die Freiheitsrechte zu
betonen?
Brauchen wir für eine zukunftsfähiges
Deutschland nicht konkrete politische Maß-
nahmen,
die auf eine neue Qualität bei der Durchsetzung
der sozialen Rechte [z.B. Artikel 22
/Recht auf
soziale Sicherheit /, 23 (1) /Recht auf Arbeit / , 23 (2) / Recht auf gleichen Lohn
für
gleiche Arbeit /, 25 (1) /
Recht
auf Gesundheit und Wohlbefinden der
Familie (17) ]
zielen und
so einen Zugewinn an Toleranz ,
Gleichberechtigung und Gleichstellung in der
Gesellschaft
zu ermöglichen ?
Die Bundesregierung verstieß mit der Teilnahme am Krieg im Kosovo nicht nur gegen die
UN-Charta, gegen den NATO-Vertrag, gegen den 2+4-Vertrag, gegen das Grundgesetz,
gegen das deutsche Strafgesetzbuch, und gegen die „rot-grüne“ Koalitionsvereinbarung
Kap.XI, Abschnitt 7, sondern begünstigte dadurch auch politische Intoleranz nach innen wie
nach außen.
Dieser
Krieg war materiell nur möglich, weil das
einstige (friedenserhaltende!) Gleichgewicht
des
Schreckens mit seiner furchterregenden zigfachen
overkill-Kapazität einem schrecklichen
Ungleichgewicht
der militärischen Kräfte der Nato
und z.B. (!) Rest-Jugoslawiens gewichen
war.
Dieser Krieg war ideell nur möglich, weil alte
Feindbilder, alte Vor-Urteile, alte Partei-
lichkeit,
alte Selbstgerechtigkeit , alte Strategien
zur Konflikt“lösung“ ( wird eines Tages das
„Massaker
von Racak“ als Variante des „Überfalls auf
den Sender Gleiwitz“ oder der Vor-
kommnisse
im „Golf von Tonking“ benannt werden ?)
neu belebt und an die Stelle intelli-
genter,
zivilisatorischer Lösungssuche für mehr
Toleranz im Umgang der verschiedenen Be-
völkerungsteile
und Religionen gesetzt wurden.
Die
Anmaßung jedoch, das (Völker-)Recht brechen zu
können, ist ein untrügliches Anzeichen
für ein
Abweichen vom Rechtsstaat.
Die
weitgehende Ablehnung des Kosovo-Krieges im
Osten deshalb z.B. mit Defiziten der
Ostdeutschen
bei der Beachtung und Achtung der Menschenrechte
oder mit einer diktatur-
bedingten
Anti-NATO-Haltung zu erklären, greift
entschieden zu kurz . Ist nicht vielmehr die
Ablehnung
eines Krieges als zivilisatorische
Errungenschaft und als Versuch, Toleranz zu
leben, zu
bewerten ?
Viele
Ostdeutsche wissen, dass die Vernachlässigung
des Rechts im Namen (irgend-)einer
höheren
Moral immer die totalitären, autoritären
Züge der Intoleranz in sich trägt. Das
ist u.a.
auch eine
meiner Lernerkenntnisse aus dem Nachdenken
über meine Mitbeteiligung an der
Niederlage
des sozialistischen Versuchs auf
deutschem Boden.
Nehmen wir als ein weiteres Beispiel die Zeitungen. Viele informieren nicht wirklich unab-
hängig, sondern eher interesse- und parteigebunden, bei deutlicher Bevorzugung konserva-
tiver Bewertungsmaßstäbe. „Linke“ Denkmuster und Politikziele sind deshalb oft schon a
priori verdächtig, werden bestenfalls belächelt und schlimmstenfalls sehen sich ihre Träger
verbaler und anderer Gewalt ausgesetzt. Der Mangel an Toleranz gegenüber „linken“ Denk,-
Bewertungs- und Verhaltensweisen ist – nicht nur in der Presse, sondern zuerst bei so
manchem Politiker – erschreckend groß. Erschreckend deshalb, weil doch der Untergang der
sozialistischen Systeme und der „Sieg“ des Westens ganz ursächlich mit der relativen
Lernunfähigkeit des einen und der ständigen Lernfähigkeit des anderen Systems zu tun hat.
Aber wahrscheinlich muss man da die seinerzeit noch vorhandenen „Koordinaten“ in Gestalt
der Block-Konfrontation beachten. Sie zwangen wohl zu einem Maß an Toleranz, auf das
man heute glaubt verzichten zu
können.
Insofern
leben wir überhaupt nicht in einer
pluralistischen, toleranten Informationsgesell-
schaft,
sondern erfahren, erleben und erleiden einen
Sensationsjournalismus, der sich voll auf
die
Skandalisierung politischer, kultureller,
sozialer Vorgänge konzentriert und dabei sehr oft
eine
antisozialistisch begründete Intoleranz an den
Tag legt. Gerade durch die Sucht nach der
Quote
bedienen viele Medien die Suche nach
Feindbildern und Sündenböcken und stärken
bzw.
wiederbeleben insofern Intoleranz. Wie soll
sich denn politische Toleranz als Tugend
möglichst
vieler Menschen entwickeln, wenn ein
ganzer Mensch auf einen halben Satz
reduziert
wird ? Muss man nicht den Kampf der Medien
um Marktanteile als strukturell
bedingte
Intoleranz bewerten? Vor allem , wenn man
bedenkt, dass Erfahrungen , Normen
und
Lebensformen transportiert und vermittelt
werden, wie : „Heule mit den Wölfen – das
bringt
Dich nach vorne / nach oben“ oder „Hau drauf,
das erspart Dir viele Worte und bringt
mächtig
viel Anerkennung “ oder „Greif zu, eine Frau
ist hauptsächlich Busen und Popo“
oder „Sauf
dich voll und fress dich dick und halt
dein Maul von Politik“ oder „Egal, woher
der Wind
auch weht, Hauptsache mein Mäntelchen hängt
richtig drin“. Sind das nicht alles
Regeln,
Muster, Vorbilder für das individuellen
Verhaltens, die eher nichts mit Toleranz, mit
der
Achtung und dem Respekt gegenüber dem Anderen,
dem Fremden zu tun haben, sondern
vielmehr
das Gegenteil davon ausmachen oder
begünstigen ? Hat aber nicht der große , alte
politische
Philosoph Italiens Recht, wenn er
schreibt, unsere Zeit bringe “ ein wachsendes
Bedürfnis
hervor, nicht von einer verlogenen und
bedrängenden Propaganda betrogen,
aufgehetzt
oder gestört zu werden“ ? (18)
So zu fragen muss erlaubt sein, denn Toleranz wird auch für das weitere Vorankommen der
inneren Einheit immer bedeutsamer. Ich denke, es sollte aufhören , dass immer dann, wenn
die Neubundesdeutschen nicht das tun, was die Altbundesdeutschen erwarten, alte Vor-
Urteile aktiv werden und die jeweils „falsche“ Verhaltensweise als ein- (oder zwei) -fach
diktaturbedingtes Phänomen erklärt wird. In dem Maße, wie Westdeutsche nicht nur unsere
Biographien , Leistungen, Misserfolge und Niederlagen nach ihrem Bild von der DDR inter-
pretieren, sondern vor allem kritisches Hinterfragen gesellschaftlicher Zustände im vereinten
Deutschland feindbildgestützt vor-verurteilen bzw. denunzieren, in dem Maße beleben sie
Intoleranz wieder bzw. vertiefen sie die Spaltung. Politisch heißt das, die gemeinsame Zukunft der Deutschen wird so ihrer getrennten Vergangenheit geopfert. Philosophisch heißt
das, aus Furcht vor dem Anderen , dem Fremden, aus defizitärer Selbstgewissheit bleibe ich
sicherheitshalber bei meinem
Feindbild und lebe die Intoleranz.
Es
ist eine, wahrscheinlich durch sehr alte Vor-Urteile und
Unkritisch-Sein sich
selbst gegen-
über
am Leben gehaltene Vorstellung, im Osten müsse alles so werden, wie im
Westen.
Die
„Ossis“
sind – mit ihrer Sozialisation,
die man ja nicht an einer imaginären gesamtdeutschen
Garderobe
abgeben kann - Teil des neuen Deutschland. Neubundesdeutsche gewöhnen
sich
z.B.
aus ihrer Sozialisation nur schwer daran, dass - stark verkürzt
gesprochen -
vor den
Chrom-
und Glaspalästen der Banken der Bettler sitzt und in den
ach-so-schicken
Fußgänger-
zonen
Obdachlose mit einem Pappschild auf ihre Situation aufmerksam machen.
Neubundesdeutsche
haben das starke Empfinden, hier wird die viel gepriesene Chancen-
gleichheit
ernsthaft verletzt und die Ungleichstellung der Menschen mit
Ungleichachtung
verbunden.
Wenn Gedanken und Politikvorschläge, die auf die Lösung solche Zustände
zielen,
der Gleichmacherei verdächtigt werden, dann sind offensichtlich nicht
nur
Uralt-
Vorurteile
und Intoleranz im Spiel, sondern es werden große Menschengruppen sowohl
aus
einem
menschlichen Lebens-Niveau als auch aus dem gesellschaftlichen Diskurs
darüber
ausgegrenzt.
Oder will jemand im Ernst „linke“ Ostdeutsche zum Diskurs über die gesamtdeutsche
Zukunft und einen Zuwachs an innergesellschaftlicher Toleranz erst dann zulassen, wenn
bzw. insofern sie ihre Biographie unkenntlich gemacht und /oder vergessen haben ?
Die
Abstempelung Andersdenkender als Andersartiger
kennt der ehemalige DDR-Bürger und
manche
erleben sie heute neu. Wieviel Arroganz und
Selbstüberhebung fehlt noch, bis der
Andersartige
der Abartige ist ? Gibt es hier
vielleicht verdeckte diktaturbedingte Traditions-
linien zu
den anmaßenden Vorstellungen
schrankenlosester, brutalster
Intoleranz, eine höhere
Spezies
sei zur Herrschaft über Untermenschen, über
eine niedere Rasse berufen ?
Unstrittig
ist die pluralistische Demokratie der
Bundesrepublik durchaus ein potenzieller
Vorteil
gegenüber den Möglichkeiten von realem
Sich-Einbringen-Können in der DDR. Aber
diese
Potenzen kommen nur dann wirklich zur Geltung,
wenn es auch reale Toleranz gibt.
Ohne jetzt
erneut Spinoza zu bemühen zu wollen , ein
paar der o.a. geführten Gedanken mit
dem Blick
auf die deutschen Zustände noch einmal
nachzulesen, ist nach Meinung des Autors
nicht
völlig nutzlos.
Es wird
sich zeigen, Toleranz erfordert Zivilcourage
und Selbstachtung. Sie hat nichts mit
gedankenlosem,
unkritischem Gelten-Lassen von allem
und jedem zu tun. Toleranz ist als
wichtige
Verhaltenseigenschaft für die
Zukunftsfähigkeit der nächsten Generationen nicht
schlechthin
Gleichgültigkeit gegenüber dem Anderen,
dem Fremden. Sie ist vielmehr geprüfte
Anerkennung
des Andersseins und Akzeptanz des Rechts
des anderen auf sein Anderssein.
Eine
solche Verhaltensweise wird nicht nur
Individuen abgefordert werden, soll die Mensch-
heit auf
der Erde noch -zig Generationen
weiterexistieren, sie wird auch von Parteien,
Parlamenten,
Regierungen und öffentlicher Meinung zu
fordern sein. Toleranz ist so gesehen
die
„Entscheidung für Überredung und Überzeugung und
gegen Gewalt und Zwang“. In ihr
kommt „ein
aktives Vertrauen in die Vernunft oder
die Vernünftigkeit des anderen „ zum
Ausdruck.
(19)
Toleranz
ist niemals und niemandem angeboren , sie
wird im besten Sinne des Wortes
anerzogen
und ist insofern ein wichtiges Ergebnis
gelungener Sozialisation des einzelnen.
Darauf
haben sowohl die Eltern, als auch - in
einem derzeit eher unterschätzten
Umfang –
die
Parteien, Parlamente und Regierungen ebenso wie
Politiker und Journalisten Einfluss.
Toleranz
ist engstens verflochten mit der Umsetzung
der „Goldenen Regel“ aus der Berg-
predigt,
die von jedem fordert, den Andersgläubigen,
den Fremdartige, den anders Aussehen-
den, den
anders Denkenden (!) so zu behandeln, wie
man selbst von ihm behandelt werden
möchte.
Ein Deutschland, das in der Welt immer
wieder durch Ausländerfeindlichkeit und
Rechtsextremismus
auffällt; ein Deutschland, das
durch Internet und weltweite Wirtschafts-
verflechtung
gekennzeichnet ist ; ein Deutschland,
in dem tiefgreifende sozialen Polarisie-
rungen und
Spannungen existieren – in einem solchen
Deutschland wird es für
die Zukunfts-
gewinnung
wichtiger als je zuvor, dass Menschen
lernen : ihr individueller Wert wird nur
dann
akzeptiert, wenn sie selber den gleichen Wert
der anderen akzeptieren.
Natürlich
gibt es auch Grenzen der Toleranz. M.E.
sind sie sowohl da zu finden, wo die
Forderung
nach Toleranz ( fälschlicherweise! ) dazu
genutzt wird , den Status quo der
Ungleichheit
zu bewahren als auch dort, wo
strukturelle und physische Gewalt verdeckt,
verschleiert,
beschönigt wird und so ihre
Überwindung verhindert werden soll. „Die Toleranz
muß sich
auf alle Menschen erstrecken, ausgenommen
diejenigen, die das Prinzip der
Toleranz
leugnen. Kurz gesagt, alle, außer den
Intoleranten, müssen toleriert werden.“(20)
Ein
wichtiger Schritt zu mehr gelebter Toleranz in
Deutschland könnte es schon sein, wenn
nicht nur
in dieser Dialog-Zeitschrift über die
fatalen Mechanismen von Despotismus und
Tyrannei ,
von Unmenschlichkeit und Brutalität, von
Parteilichkeit und Fundamentalismus ,
von
Fanatismus und Beschränktheit, von Einseitigkeit
und Verblendung, von Selbstherrlich-
keit und –
gerechtigkeit, von Voreingenommenheit und
Rechthaberei, von Verzerrung in der
Realitätswahrnahme
und von eigenen Vor-Urteilen
diskutiert und darüber hinaus diese
Diskussion
durch politisch gewollte Ausprägung
sozialer Gerechtigkeit gestärkt und gestützt
würde .
Natürlich
– das belegen u.a. die wenigen ausgewählten Beispiele in diesem Artikel
- ist
der
Weg
über die Schaffung sozial gerechter Zustände und wirklicher
Gesellschaftlichkeit der
Individuen
zu einer die Toleranz lebenden Gesellschaft weitaus komplizierter,
schwieriger
und
steiniger als die Zusammenführung des größten Teils der Gesellschaft
gegen den
anderen
Teil
durch die Propagierung eines klischeehaften Feindbildes.
Genau
deswegen stehen Machthabende und Regierende (was ja nicht dasselbe
ist!) immer
in
der
latenten Gefahr, feindbilddurchsetzte, fanatische, aggressive,
nationalistische,
fremden-
feindliche
Stimmungen und Meinungen nicht nur auszulösen, sondern auch zu nutzen.
Eine
Demokratie (also jeder Demokrat !) wird sich in solcher Situation
dadurch
auszeichnen,
dass
sie / er lernfähig ist, dass sie / er die Korrektur von Fehlern
angstfrei
ermöglicht und den
Weg
in die Sackgasse politischer Intoleranz , in die extreme Zuspitzung
sozialökonomischer
Gegensätze
aus Gründen der Sicherung und Stärkung des eigenen Gemeinwesens , aus
Grün-
den
eines friedvollen Zusammenlebens von Menschen mit politischen
,sozialen,
ideellen ,
finanziellen
Unterschiedlichkeiten vermeidet.
Es ist
demokratie- , toleranz- und letztlich
gesellschaftszerstörend - wenn
Ostdeutsche ständig neu erfahren -, dass unser System zwar mehr als ihr
altes
System produziert, aber
dieses
Mehr auf zunehmend ungleichere Weise verteilt
und so den Weg zu mehr politischer
und
sozialer Intoleranz neu pflastert. Bejahung der
Marktwirtschaft kann doch nicht bedeuten,
alles
gedankenlos, unkritisch gut zu heißen, was
existiert oder was mit dem Wort
„Sachzwang“
betitelt wird. Bejahung der
Marktwirtschaft kann nicht durch das Nachbeten
von
Formeln erzwungen werden, die „von oben“ kommen
und u.U. nur die Meinung der
Herrschenden
wiedergeben. Bejahung einer sozialen (!)
Marktwirtschaft schließt ein,
Auswüchse
und bösartige Wucherungen eben
Krebsgeschwür zu nennen und nach der
müssen wir z.B. weg von der Vergötzung des Marktes und „zurück“ zu den Zielen der Mütter
und Väter des Grundgesetzes, die nicht schrankenlosen Egoismus wollten und deshalb (!) u.a.
dem Eigentum zugleich
eine
Gemeinwohlverpflichtung auferlegten (GG, Art.14).
Eine auf
mehr Toleranz zielende Diskussion könnte
z.B. unter der Frage stehen : Wie wollen
wir
Deutschen im 21.Jahrhundert leben ? Zugespitzt
hieße das u.a. : Es kann nicht nur um den
Standort Deutschland gehen. Deutschland ist mehr
als ein
Standort (der Wirtschaft), es ist
auch (oder
zuerst ?) Lebensort der Deutschen
und vieler anderer Menschen.
Nichts ist gegen die Wirtschaft oder die Wirtschaftlichkeit zu sagen, aber es gilt - wenn wir
eine engere Verbindung zwischen ökonomischer Stärke des Landes und einem kulturvollen
Leben sehr unterschiedlicher Menschen in Deutschland wollen : Ohne mehr Wirtschaft-
lichkeit erreichen wir die Zukunft nicht , ohne mehr Toleranz und Gerechtigkeit ertragen wir
sie nicht !
2 Ziemlich klar werden die Bedingungen genannt, unter denen vollständige Abrüstung möglich wird : „Dann schmieden sie aus ihren Schwertern Pflugscharen und aus den Spitzen ihrer Speere Winzer-messer. Kein Volk wird mehr das andere angreifen und keiner lernt mehr das Kriegshandwerk. Jeder wird in Frieden zwischen seinen Feigenbäumen und Weinstöcken wohnen, keiner braucht sich mehr zu fürchten.“ (Micha, 4,3f)
Zitiert in : Die Bibel in heutigem Deutsch. Evangelische Haupt-Bibelgesellschaft zu Berlin und Altenburg 1983 , S.820
Um weitere Verbrechen nach der Verschleppung junger Männer und dem Diebstahl von Silber und Gold zu verhindern – so geht es aus dem Kontext hervor - wird gefordert: „Rüstet euch zum Kampf! Stellt eure Truppen auf. Laßt alle eure wehrfähigen Männer antreten und marschieren. Schmiedet aus euren Pflugscharen Schwerter und macht aus euren Winzermessern Speerspitzen. Noch der Schwächste soll erklären: Ich kämpfe wie ein Löwe.“ (Joel, 4,9f)
Ebenda, S.807
3 Baruch de Spinoza : Sämtliche Werke, Bd.3, Felix Meiner Verlag Hamburg 1994, S. 299
4 Ebenda, S.300
5 Ebenda,
6 Ebenda, S.304
7 Ebenda,
8 Ebenda, S.305
9 F.Engels : Flüchtlingsliteratur. In : MEW, Bd. 18, S.532
10 Baruch de Spinoza : Sämtliche Werke, Bd.3, Felix Meiner Verlag Hamburg 1994, S.305
11 Ebenda,
12 Ebenda,
13 Ebenda,
14 Ebenda, S.306
15 Ebenda, S.308
16 Ebenda, S.309
17 Allgemeine Erklärung der Menschenrechte. In: Noberto Bobbio : Das Zeitalter der Menschenrechte. Ist Toleranz durchsetzbar ? Verlag Klaus Wagenbach Berlin 1998, S.108 ff
18 Noberto Bobbio : Das Zeitalter der Menschenrechte. Ist Toleranz durchsetzbar ? Verlag Klaus Wagenbach Berlin 1998, S.17
19 Ebenda, S.93
20 Ebenda, S.103